Aus Angst lange Zeit nicht über die Ermordung im KZ gesprochen

Pater Heriberts bitteres Schicksal

AUGSBURG/DONAUWÖRTH – Der Verleger und Buchautor Martin Kluger aus Augsburg wusste lange nichts von seinem Verwandten Eduard Kluger, der Pater im Deutschen Orden war und dort den Namen Heribert führte. In der Familie wurde nämlich nicht darüber geredet, dass Pater Heribert in KZ Dachau ermordert wurde. Martin Kluger berichtet, wie er auf ihn gestoßen ist und was er über sein Schicksal in Erfahrung bringen konnte: 

„Angst macht vorsichtig – und leider auch dumm.“ Mit dieser Stellungnahme betitelte der Schweizer Journalist Andrea Masüger Anfang März 2020 einen Beitrag über die Coronapandemie. Diese Feststellung trifft auch für den Umgang mit anderen Ängsten zu, zum Beispiel mit denen in, aus und nach der Zeit des Nationalsozialismus. In meinem Fall machte die Angst vor dem NS-Regime offenbar meinen Großvater vorsichtig. Und er hielt meinen Vater, dessen drei Brüder und damit auch mich, seinen Enkel, noch viele Jahre nach 1945 wenn nicht dumm, so doch zumindest unwissend. In meinem Fall bis 2013.

In diesem Jahr besuchte uns eine entfernte Verwandte aus Kanada, und erst während ihres Besuchs erfuhr ich von meinem Verwandten Pater Heribert Kluger, der am 18. oder 19. Januar 1945 im Konzentrationslager Dachau ermordet worden war. Es hätte mir während meiner Kindheit in Donauwörth mit Sicherheit geholfen, etwas darüber zu wissen, wo meine Altvorderen in den Jahren vor 1945 gestanden hatten. Bei der Großelterngeneration, also bei denen, die die Zeit des Nationalsozialismus als Erwachsene bewusst erlebt und die auch die Vertreibung aus der sudetendeutschen Heimat erlitten hatten, wurden die damit verbundenen Themen gegenüber den eigenen Kindern, aber auch gegenüber der lang nach 1945 geborenen Generation der Enkel ausgeblendet. Man sprach nicht darüber, zumindest nicht mit mir, dem Sohn, Neffen oder Enkel. 

Rucksackdeutsche

Mein Vater und zwei seiner drei Brüder (der jüngste war noch zu jung gewesen, um die Zeit bis 1945 und ihre Schrecken bewusst wahrzunehmen) hatten die letzten Kriegsjahre und die Monate der Vertreibung ihren Erzählungen nach eher als großes Abenteuer erlebt. Der sprachbegabte Drittälteste, der durch kriegsgefangene Briten die englische Sprache erlernte, die Großmutter, die beim Anrücken russischer Einheiten unter dem Kohlehaufen im Keller versteckt wurde, oder die Arbeit der Jungen in einem von den Tschechen übernommenen Sägewerk, die Ankunft der Deportierten in Donauwörth und auch der durchaus unfreundliche Empfang der „Rucksackdeutschen“ in Bayern, das Leben auf engstem Raum, das Holzsammeln und Beerensuchen im Wald, die Freude der hungernden Kinder über eine über den Gartenzaun gereichte Erdbeere – das waren Erinnerungen, über die mein Vater und seine älteren Brüder bei zahlreichen Familienfeiern in Donauwörth, wohin es 1946 fast die ganze Verwandtschaft verschlagen hatte, sprachen. Von meinem Verwandten Eduard Kluger, einem Deutschordenspriester mit dem Ordensnamen Heribert, oder gar von seinem Tod in einem Konzentrationslager habe ich bei den Familientreffen nie etwas erzählen hören.

Deshalb dauerte es also bis zum Sommer 2013, bis ich erfuhr, dass Eduard, respektive Pater Heribert Kluger, 1945 im KZ Dachau ermordet worden war, und dass dieser Verwandte deshalb zu den Märtyrern der römisch-katholischen Kirche im 20. Jahrhundert zählt. Ich erfuhr dies nicht von den engeren und engsten Verwandten, sondern von einer entfernter verwandten Bibliothekarin aus Toronto, die ihre alte Heimat besuchte. Von ihr hörte ich zum ersten Mal von Eduard Kluger, seinem Leben und Wirken mit dem Ordensnamen Heribert und seinem tragischen Tod nur wenige Monate vor dem rettenden Kriegsende. Erst nun konnte ich in der einschlägigen Literatur nach Pater Heribert Kluger forschen und wurde rasch fündig.

Schnell stieß ich auf das im September 1947 vom Staatskommissariat für rassisch, religiös und politisch Verfolgte herausgegebene Gedenk- und Nachschlagewerk „Die Toten von Dachau. Deutsche und Österreicher“: In diesem alphabetisch angelegten Register findet sich Eduard Kluger, allerdings lediglich mit der Angabe seines Geburtsdatums „27. 7. 81“, des Geburts- und Wohnorts „Neu-Zechsdorf/Freudenthal“ und seines Todestags „19. 1. 45“. Mehr gibt die damals „erste und einzige Gesamtzusammenstellung aller im Lager verstorbenen und ums Leben gekommenen Häftlinge deutscher Zunge“, ein schlichtes Druckwerk in der zeittypisch schlechten Papierqualität, nicht her. Die Todesursachen „Erschöpfung, Verzweiflung, Hunger, Seuchen und Experimente“ werden dort nur pauschal aufgeführt.

Sehr viel mehr über Pater Heribert Kluger und seine „Verbrechen“ erfuhr ich endlich im Nachschlagewerk „Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts“, das im Jahr 2000 in zweiter Auflage im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz herausgegeben worden war. Dort fand ich bestätigt, was die Verwandte aus Kanada, die Pater Heribert noch selbst erlebt und lebendig vor Augen hatte, schon zuvor aus der Erinnerung an die mündliche Überlieferung der Familie erzählt hatte.

Vom Direktor denunziert

„Wegen seiner fortgesetzten Kontakte zu dem von ihm getauften jüdischen Fabrikanten Friedrich Marburg, der bis 1938 in Freudenthal sozial sehr engagiert und dafür mit der Ehrenbürgerwürde ausgezeichnet worden war, sowie ob seiner Tätigkeit in den Kriegsjahren wurde er […] vom Direktor des Freudenthaler Gymnasiums angezeigt.“ Als der Deutschordenspriester von der Kanzel aus die Untaten des NS-Regimes anprangerte, geriet er zwangsläufig ins Visier der Nationalsozialisten: „Bereits im Jahre 1938 hatte K. nach der Reichspogromnacht offen seinen Abscheu über die damaligen Ereignisse geäußert.“ Was dann mit Pater Heribert Kluger geschah, hält die heute in Mindelheim im Unterallgäu aufbewahrte Familienchronik fest: „Im September 1944 wurde er von der Gestapo wegen staatsfeindlicher Predigten und angeblichen Abhörens feindlicher Sender verhaftet und nach Troppau eingeliefert. In Troppau, wo er doch allseits bekannt war, musste er beim Straßenbau arbeiten. Von Troppau wurde er in das Konzentrationslager nach Dachau bei München überführt und starb am 19. Jänner 1945.“ Der Band mit dem Titel „Zeugen für Christus“ nennt davon abweichend den 18. Januar als Todestag.

„Religionsprofessor“

Der Tod dieses Deutschordenspriesters im KZ Dachau jährt sich im Jahr 2020 also zum 75. Mal. Wer aber war dieser Eduard Kluger, der nach seinem Theologiestudium in Olmütz (Olomouc) am 15. September 1903 in den Deutschen Orden eintrat, den Ordensnamen Heribert annahm und 1905 in Brixen zum Priester geweiht wurde? Pater Heribert Kluger unterrichtete seit 1911 in Freudenthal (Bruntál) als Religionsprofessor am dortigen Gymnasium und leitete seit 1931 das dortige Deutschordensspital.

Die Familienchronik führt zu den nachfolgenden Jahren aus: „Mit 1.1.1934 zum Konsistorialrat ernannt, gehörte seit 1936 dem Generalrat des Deutschen Ritterordens an und war im Jahre 1937 (?) als Hochmeister des Deutschen Ritterordens vorgeschlagen.“ Ein handschriftlicher Vermerk auf dem maschinengeschriebenen Eintrag hält zudem fest: „Erzbischöfl. Rat“. In Kirchenkreisen war Pater Heribert Kluger wohl auch wegen seiner Verwandtschaft mit Anton Cyril Stojan bekannt. Stojan, ein früherer Abgeordneter im Wiener Reichsrat und Mitbegründer der Christlich-sozialen Partei, war von 1921 bis 1923 Erzbischof von Olmütz gewesen.

Diesen Deutschordenspriester hat die Angst, die er im Konzentrationslager Dachau zweifellos gespürt haben muss, weder vorsichtig noch dumm gemacht, und schon gar nicht feige. Denn wenn es stimmt, was – wie sich Jahrzehnte später ein Angehöriger erinnerte – ein überlebender KZ-Mithäftling berichtet haben soll, hätte das Ende von Pater Heribert Kluger zu seinem Widerstand gegen das entmenschte Regime gepasst. Der 64-jährige Geistliche sei im KZ Dachau so verprügelt worden, dass sein Blut den Boden verschmierte. Als man ihn zwingen wollte, das eigene Blut aufzulecken, habe er sich dieser Demütigung verweigert. Daraufhin sei er von KZ-Aufsehern totgeschlagen worden.

Angst – sei es um sich, sei es vor allem um ihre Familienangehörigen – hatten dagegen die Verwandten von Pater Heribert Kluger – damals sicher aus gutem Grund. Diesen Grund verriet mir erst 2020 der Blick in die Familienchronik. Denn dort taucht am Rand des Eintrags zu Pater Heribert Kluger noch eine zweite, mit Bleistift geschriebene Handnotiz auf. Sie lautet: „3 Pimpfe der Sippenhaftung entgangen!“ Geschrieben hatte diese Anmerkung der Vater der drei „Pimpfe“, mein Großvater, der 1945 als Soldat in Frankreich „gedient“ hatte. „Pimpfe“ war in der NS-Zeit der Ausdruck für die jüngeren Jahrgänge des „Jungvolks“. Dieser Organisation der Hitlerjugend hatten die zehn- bis 14-jährigen Knaben zwangsweise beizutreten. 

Einer dieser drei Pimpfe war mein Vater, der von den Ängsten meines Großvaters offenbar nichts oder nur wenig mitbekam. Dessen Angst war wohl auch Jahre nach 1945 noch längst nicht abgeschüttelt. Vielleicht auch, weil der Ungeist der Zeit vor 1945 mit der Kapitulation des „Tausendjährigen Reichs“ ja nicht einfach über Nacht verschwunden sein konnte. Sogar noch im Dezember 1958 erhielt mein Großvater – damals Buchhalter der Buchhandlung Ludwig Auer der Pädagogischen Stiftung Cassianeum in Donauwörth – zum Beispiel eine Postkarte zugesandt, die mit einer Acht-Pfennnig-Briefmarke mit dem Konterfei Adolf Hitlers samt Aufdruck „Ukraine“ beklebt worden war. 

Ein Postbeamter in Münster/Westfalen hatte die Hitlermarke säuberlich per Hand abgestempelt. Sehenden Auges? Aus reiner Routine? So wenig war die Zeit vor 1945 aus den Köpfen. Und so wurde auch lange nach dem Krieg über das KZ-Opfer in der Familie geschwiegen. Erst im Zusammenhang mit diesem Beitrag habe ich aus Gesprächen erfahren: In anderen Familien war das ähnlich. Über die Opfer sprach man nicht. Martin Kluger