Kirchenmusik von Turm und Empore

Wenn Kling für Klang sorgt

„Du hast schon immer auf Glocken gesponnen“, sagte einst sein Bruder über ihn. Aus Legosteinen, einer Messingglocke und einem Elektromotor versuchte Pater Stefan als Kind etwa einen Glockenturm zu bauen. Bereits damals faszinierte ihn das Einläuten des Sonntags in der Pfarrkirche. Heute sind Kirchenglocken sein Alltag, nur mehrere Nummern größer. Passend zu seinem Nachnamen sorgt Pater Stefan Ulrich Kling (56) als Glocken- und Orgelsachverständiger dafür, dass Wohlklang die Gemeinden der Diö­zese Augsburg erfüllt.

Wenn im Kirchturm das Mauerwerk oder der Glockenstuhl bröselt, wenn das Geläut aus dem Takt gerät oder Anwohner nicht schlafen lässt, wenn die Orgel die Ohren der Gemeinde verstimmt – dann ruft die Pfarrei Pater Stefan an. Er kommt dann zum Besichtigungstermin, dokumentiert die Schäden, berät über erforderliche Maßnahmen und prüft er Rechnungen und Werkverträge. 

„Ich sehe meine Rolle nicht darin, Gemeinden meine Meinung zu verpassen, sondern sie bei Problemen mit Glocken oder Orgeln zu begleiten und Lösungen zu finden“, sagt er. Weil man den Denkmalschutz berücksichtigen muss, die Gemeinden finanziell nicht überfordern, aber dennoch ästhetisch-künstlerische Ansprüche erfüllen will, ist das nicht leicht. Doch er hat Erfahrung.

Der Prior des Klosters Roggenburg in Bayerisch-Schwaben hat nach seinem Theologiestudium in Regensburg Kirchenmusik studiert. Ab 1992 war er Assistent im Amt für Kirchenmusik,  sieben Jahre später übernahm er den Dienst des Glockensachverständigen vom früheren Augsburger Domkapellmeister Rudolf Brauckmann. So arbeitete sich Pater Stefan in die Materie ein. Seit 2004 leitet er das Amt für Kirchenmusik in Augsburg. 

Im Dom gegenüber schlägt die Uhr zwölf. Pater Stefan verstaut einen Koffer voll Stimmgabeln im Auto. Heute geht es in den Süden der Diözese: nach Unering im Landkreis Starnberg, in die Erzabtei St. Ottilien im Landkreis Landsberg am Lech und nach Buchloe im Landkreis Ostallgäu. 

Die Außentermine legt er stets so, dass alle Einsatzorte in einer Richtung liegen. Auf der Autobahn herrscht heute wenig Verkehr, die Sonne scheint, der Himmel ist wolkenlos blau und klar. Man sieht sogar die Berge. 

Wackelndes Geläut

„Es ist immer wieder schön, so ein Kleinod zu entdecken“, ruft er, als er eine Stunde später in Unering aus dem Auto steigt und St. Martin erblickt. Die kleine Rokoko-Kirche, um 1731 von Architekt Johann Michael Fischer erbaut, steht malerisch auf einem Moränenhügel. Viel Zeit zum Schauen bleibt aber nicht, die Arbeit ruft: Im Turm soll laut Wartungsmonteur beim Läuten der Holzglockenstuhl wackeln. 

Vor dem Kofferraum schlüpft der Sachverständige im weißen Hemd und der hellen Hose in einen Blaumann. Denn in Kirchtürmen findet man so einiges: tote Fliegen, Mauerstaub, Vogelkot, ausgebaute Glockenteile – eine Gemeinde lagerte sogar eine mittelalterliche Glocke unter der Treppe. 

Mit Taschenlampe, Stirnleuchte und Ohrenschützern ausgestattet, besteigt er mit den Kirchenpflegern Eva Mörtl und ihrem Schwiegervater Hermann den Turm. Der Eingang liegt direkt neben dem durch Gitter geschützten Kirchenraum. Anfangs führen noch normale Stufen nach oben. Dann muss Pater Stefan durch eine hölzerne Bodenluke kriechen. Es wird enger. Eine Lampe baumelt herab und verbreitet mit den unverputzten Ziegelwänden, den Holzbalken und dem Geruch von Mauerstaub eine Stimmung wie auf einem sehr engen, alten Dachboden. Oben, bei den Glocken hat nur eine Person Platz. 

Pater Stefan verschafft sich zunächst einen Überblick über das Geläut. „Die Glocken sind viel älter als die Kirche“, meint er. „Die aufgegossenen Minuskeln müsste man zwar erst genau entziffern, aber die Glocken stammen möglicherweise

aus dem 13. bis 15. Jahrhundert. Da müsst ihr gut drauf aufpassen“, sagt er zu Eva und Hermann Mörtl. 

Dann setzt er Ohrenschützer auf und schaltet die Elektrik der Glocken an. Die Zahnräder der Motoren und die Antriebsketten versetzen die Glocken scharrend in Bewegung. Bedenkt man, welche Reichweite das Geläut hat, kann man sich vorstellen, wie laut es ist, wenn die Glocken in nächster Nähe erklingen. Helle und dunklere Töne vermischen sich im Wechsel mit dem Vibrieren, das die Balken und den Turm durchzieht, wenn die Klöppel auf die Klangkörper schlagen. Mit der Taschenlampe beleuchtet Pater Stefan jeden Winkel, jede Verschraubung der Balken und betrachtet, wie alles auf die Schwingungen reagiert.

„Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt“, sagt der Sachverständige, als er aus dem Spalt zwischen Glocken und Mauer zu den Kirchenpflegern zurückklettert. „Der obere Teil des Glockenstuhls wackelt ein wenig, da hat sich wohl was gelockert. Der Zimmerer müsste die Balken mal grundsanieren. Läuten könnt ihr, aber behaltet das Ganze im Auge.“ Nicht immer fallen Überprüfungen so aus. Wenn etwa Mauerwerk beschädigt ist oder Stahlträger durchgerostet sind, müssen die Glocken sofort schweigen. 

Der nächste eingerüstete Turm wartet schon. Aber weniger auf Pater Stefan als vielmehr auf die Glocke: Im Benediktinerkloster St. Ottilien im Landkreis Landsberg wird der Sachverständige die neugegossene Friedensglocke überprüfen, die das achtstimmige Geläut der Klosterkirche ergänzen soll, sobald die Turmsanierung abgeschlossen ist.

Glanz in der Werkstatt

In der klostereigenen Schlosserei wird Pater Stefan von Projektleiter Bruder Odilo Rahm und einigen Arbeitern erwartet. Inmitten von Werkbänken, Maschinen und Werkzeug hängt die Glocke in einem Meter Höhe an einem Kran von der Decke. Neu glänzend strahlt sie einen Hauch von Heiligkeit aus. Pater Stefan begutachtet die Guss­qualität. Innen schaut er, ob oder inwieweit der Gießer nachgestimmt hat und wie die Oberfläche beschaffen ist. Auch die Inschrift nimmt er in Augenschein – die Glocke ist korea­nischen Benediktinermönchen der Kongregation gewidmet.

Dann sollen Klangentfaltung, Nachhall und Tonstruktur untersucht werden. „Ich brauche einen großen Eisenhammer und jemanden, der nicht zu schüchtern auf die Kante draufhaut“, sagt Pater Stefan. Maler Manfred Menter schreitet beherzt zur Tat. Ein Ton schwebt durch den Raum. Erst ist er der Hall des Hammerschlags, dann zieht er sich singend in die Länge. Aufmerksames Lauschen, andächtige Stimmung. Mit seinem Smartphone stoppt Pater Stefan die Zeit, bis der Nachhall verebbt. „Sie klingt traumhaft sauber“, befindet er zufrieden. 

Anschließend ermittelt er den Teiltonaufbau der Glocke. Dazu setzt er die Stimmgabel an verschiedene Punkte der Glocke und prüft die Werte, die er von der Gießerei Grassmayr in Innsbruck erhalten hat. Immer, wenn die Präzisionsstimmgabel per Gehör genau eingestellt ist und den jeweiligen Teilton an seiner Stelle in der Glocke erreicht, wird dieser dort zum Erklingen gebracht. Die Stimmgabel gibt dann den entsprechenden Wert an. Alles klingt wie gewünscht.   

Orgel in Einzelteilen

Die letzte Station für heute liegt im Gewerbegebiet von Buchloe. In einem Zweckbau, von Schotter umgeben residiert derzeit eine Königin der Instrumente: die neue Orgel für St. Martin, einer kleinen Kirche im Gersthofener Stadtteil Batzenhofen. Die großen, hellen Räume von Robert Wechs Werkstatt durchwehen ein süßlich-trockener Holzgeruch und leise Orgeltöne. Die Instrumente, die in jeder Ecke des Raums stehen, sind aber weit davon entfernt, Töne zu erzeugen: Sie sind in ihre Einzelteile zerlegt. Auch die Orgel für St. Martin. Die würde ein Fachfremder fast nicht erkennen: Die Pfeifen fehlen noch und der Spieltisch hat im Moment weder Tasten noch Register. Man sieht: Das soll noch alles hinkommen.

Die alte Orgel war in so schlechtem Zustand, dass nur ihr denkmalgeschütztes, geschnitztes Gehäuse und einige Pfeifenreihen erhalten bleiben werden. Anders als viele Berufskollegen macht Wech alles selbst. Er intoniert nicht nur die Pfeifen, sondern gießt auch das Zinnblech, aus dem sie geformt werden.  „Wir bauen heute was für einen Zeitraum, der nicht mehr vorstellbar ist“, sagt Wech. „Eine Orgel ist immer individuell. Nur 20 Prozent sind Material, 80 Prozent Arbeit“. „Ich verstehe meinen Beruf im ganzheitlichen Arbeiten“, sagt er. Mit Pater Stefan bespricht er den weiteren Fortgang – die klangliche Gestaltung, die des Spieltisches und wann der Einbau in Batzenhofen beginnt.

Um 17 Uhr klingt Pater Stefan Klings Arbeitstag aus. Er fährt nach Hause. Wohin ihn sein nächster Außentermin führt, hört er vielleicht schon auf der Heimfahrt durchs Autofenster – wenn die unzähligen Glocken des Bistums zur Abendmesse rufen.

Lydia Schwab

28.08.2019 - Bistum Augsburg , Kirchenmusik