Predigt zur Priesterweihe am Sonntag, 27. Juni 2021, von Bischof Bertram Meier

Ein Plädoyer für eine geschwisterliche Kirche

O je! Für die Priesterweihe dieses Evangelium?! Das passt ja wie die Faust aufs Auge. So war mein erster Gedanke, als ich den Text sah, den die Leseordnung für den 13. Sonntag im Jahreskreis vorsieht. Weil aber unsere Weihekandidaten keinen eigenen Vorschlag machten, dachte ich mir: Vielleicht soll es so sein, dass ich als „Stimme des Wortes“ (Wahlspruch!) gerade dieses Evangelium unseren noch Diakonen und Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, deuten soll.

Eingebettet in den Bericht von der Auferweckung der Tochter des Jairus überliefern die drei ersten Evangelisten die Geschichte einer Krankenheilung. Miteinander geschickt verwoben, erzählen beide Wunder auf je eigene Weise von der heilenden und Leben stiftenden Macht Jesu. In dem großangelegten Bericht von der Tochter des Jairus geschieht die Heilung der seit zwölf Jahren an Blutungen leidenden Frau geradezu "en passant". Es lohnt sich, dem Schicksal dieser Frau nachzuspüren.

In einigen markanten Zügen wird sie charakterisiert: eine Gestalt, die das Drama und den Schmerz menschlicher Existenz einfängt. Seit zwölf Jahren leidet sie an Blutungen, und niemand kann sie heilen. Sie hat "ihr ganzes Vermögen für Ärzte aufgewendet", aber ohne Erfolg. Das Leiden der Frau erscheint als eine Art unstillbarer Menstruationsblutung (vgl. Mk 5,25f). Die Krankheit beeinträchtigt nicht nur ihr körperliches Wohlbefinden; sie macht ihren ganzen Lebensweg zu einem Leidensweg. Wer kann die inneren Qualen dieser Frau ermessen?

Eine solche Blutung war für eine Frau zurzeit Jesu besonders degradierend, weil sie nach jüdischem Gesetz unrein machte. Unreinheit hatte nicht nur den Ausschluss vom Gottesdienst zur Folge, sondern bedeutete Unberührbarkeit im buchstäblichen Sinn: völlige Isolierung innerhalb der Familie und Gesellschaft. Wer eine Unreine berührte oder sich von ihr berühren ließ, wurde selbst unrein. So kommt zur körperlichen Krankheit noch soziale Ächtung hinzu, der Zwang, vor der Nähe anderer ausweichen zu müssen und jedem mit Worten und Gesten verständlich zu machen: "Rühr' mich nicht an!" Auch wir sind schon ans Abstandhalten gewöhnt. Dabei wünscht sich der Mensch nichts sehnlicher als Nähe und Wärme! Muss diese Frau, die übrigens anonym bleibt, nicht auch das Gefühl des Ausfließens, des Sich-selbst-Verlierens gehabt haben? Kannte sie die Angst, vollkommen auszubluten, all ihre Lebenskraft wegzugeben?

Verblutende und ausgeblutete Menschen gibt es auch heute. Die Pandemie lässt nicht nur körperliche, sondern auch seelische Leiden zurück. In dieser Corona-Zeit empfangen Sie, liebe Brüder, die Priesterweihe. Meine Bitte an Sie ist: Feiern Sie mit Freude Ihre Primiz, spenden Sie als Neupriester den Segen, auf den viele Gläubige warten; aber lassen Sie es dabei nicht bewenden! Ich weihe Sie nicht zu Funktionären und Altardienern, sondern zu „cooperatores caritatis“ zu „Mitarbeitern der Liebe“ Gottes. Papst Franziskus spricht hier Klartext: Das Evangelium lädt uns ein, „das Risiko der Begegnung mit dem Angesicht des anderen einzugehen, mit seiner physischen Gegenwart, die uns anfragt, mit seinem Schmerz und seinen Bitten, mit seiner ansteckenden Freude. (…) Der Sohn Gottes hat uns in seiner Inkarnation zur Revolution der zärtlichen Liebe eingeladen. (…) Wenn die Menschen in der Kirche nicht eine Spiritualität finden, die sie heilt, sie befreit, sie mit Leben und Frieden erfüllt und die sie zugleich zum solidarischen Miteinander und zur missionarischen Fruchtbarkeit ruft, werden sie schließlich der Täuschung von Angeboten erliegen, die weder die Menschlichkeit fördern noch Gott die Ehre geben.“ (Evangelii gaudium, 88f.) 

Kehren wir zum Evangelium zurück! Die Frau hat nicht aufgegeben. Sie will nicht Invalide sein auf Lebenszeit. Mitten in der Menschenmasse, die auf Jesus wartet, bahnt sie sich den Weg, weil sie denkt: "Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt." (Mk 5, 28) Was sie zu Jesus hindrängt, ist weniger die Neugier vieler Schaulustiger, die morgen der nächsten Sensation nachlaufen. Es ist ihr persönlicher Wunsch, nicht mehr von einem Doktor zum anderen laufen zu müssen. Jesus heilt die Frau, als die Ärzte am Ende sind. Ihre Krankheit ist physisch. Aber hinter der physischen Manifestation können psychische Wurzeln vergraben liegen. 

Jesus heilt nicht nur von den Blutungen. Er ist an der ganzen Person interessiert. Dadurch, dass er sich von der "unreinen" Frau berühren lässt, zeigt er überdeutlich, was er von Tabus, Vorurteilen und Diskriminierungen hält: Er durchbricht sie. Jesus nimmt die Frau ernst. Er schämt sich der Berührung nicht und möchte, dass sich auch die Frau seiner nicht schäme. Aus der Anrede: "Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden!" (Mk 5,34) sprechen seine Annahme und Wertschätzung, die ihr ein vollkommen neues Selbstwertgefühl vermittelt und sie gleichzeitig in der Gesellschaft rehabilitiert. Was Jesus der Frau sagt, ist die Ermutigung: Fühle dich nicht wertlos! Du bist eine Person, die es wert ist, geheilt zu werden, wert, dass ich auf sie aufmerksam bin! Du bist kein Mauerblümchen. Also, steh auf und steh zu dir als Frau!

Frauen in der Kirche: Das war und ist ein spannendes Verhältnis. Ich wünsche mir von Ihnen, liebe Brüder, dass Sie als Priester eine geschwisterliche Kirche fördern und selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Auch wenn Sie jetzt manche als „hochwürdiger Herr Kaplan“ betiteln, bleiben Sie zuallererst Bruder und Mensch – nicht nur in der Familie, sondern in der Gemeinschaft der Kirche, in der Gemeinde, in der Sie leben und arbeiten werden. Bringen Sie fähige Frauen ins Spiel! Lassen Sie sich von ihnen beraten! Nehmen Sie ihre Meinung ernst! Es wird Sie weiterbringen. Papst Franziskus sieht „mit Freude, wie viele Frauen pastorale Verantwortung gemeinsam mit den Priestern ausüben, ihren Beitrag zur Begleitung von Einzelnen, von Familien oder Gruppen leisten und neue Anstöße zur theologischen Reflexion geben. Doch müssen die Räume für eine wirksamere weibliche Gegenwart in der Kirche noch erweitert werden. Denn das weibliche Talent ist unentbehrlich (…); aus diesem Grund muss die Präsenz der Frauen auch im Bereich der Arbeit garantiert werden und an den verschiedenen Stellen, wo die wichtigen Entscheidungen getroffen werden, in der Kirche ebenso wie in den sozialen Strukturen. (…) In der Kirche begründen die Funktionen keine Überlegenheit der einen über die anderen. Tatsächlich ist eine Frau, Maria, bedeutender als die Bischöfe.“ (Evangelii gaudium, 102f.) Also, liebe Brüder: Habt keine Angst vor Frauen! Das gilt nicht nur für Maria. Ich meine die Frauen, denen Ihr begegnet in der Pfarrei, mit denen Ihr arbeitet in der Jugend oder im Seelsorgeteam. Macht ernst mit der kooperativen Pastoral! Die pastoralen Berufsgruppen kennen kein Oben und Unten. Sie ziehen an einem Strang – auf Augenhöhe. Bemüht Euch, die gesunde Balance zu halten zwischen Nähe und Distanz. Seid achtsam, damit Ihr keine Grenze überschreitet. Bindet Frauen ein, nicht nur als Assistentinnen, sondern als Schwestern, partnerschaftlich, ebenbürtig, beratend, korrigierend, inspirierend. Ihr werdet spüren: Das schmälert nicht unsere priesterliche Autorität, es vertieft und stärkt sie. Wir werden nicht schwächer, im Gegenteil: Wir werden geistlich stärker.

Ich will Euch noch nach Rom entführen. Auf meinen Spaziergängen bin ich gern in der Dominikanerkirche Santa Maria sopra Minerva eingekehrt. Unter dem Hochaltar befindet sich der prächtige Schrein mit dem Leib der hl. Katharina von Siena. 1970 hat Papst Paul VI. die Patronin Italiens und Teresa von Avila zu doctores ecclesiae, zu Kirchenlehrerinnen, erklärt. Außer diesen beiden war damals noch keine Frau mit diesem Ehrentitel geadelt worden. Blicken wir auf Ihr Sterben: Im Jahr 1380 bricht sie in der Peterskirche in Rom zusammen. Nach einem mehrwöchigen Krankenlager stirbt sie, kaum 33 Jahre (!) alt, mit den Worten auf den Lippen: „sangue, sangue“. Blut, Blut.

Wer auf das Kirchenbild der Heiligen schaut, dem wird das Blut wie ein roter Faden aufleuchten. Es ist die Kirche, in der das unvergängliche, erlösende Blut Christi strömt. Für Katharina gibt es ohne Blut keine Erlösung; Christus hat das Blut seiner Kirche anvertraut. Das Blut steht nicht nur für das Opfer, sondern auch und vor allem für das Leben. Ich finde es sehr sprechend, dass Katharina im Zusammenhang von Kirche und Eucharistie neben den Leib mindestens so nachdrücklich das Blut stellt: ein wirklich weibliches Bild. Das Blut der Frau ist ja das Wichtigste im Leben der Menschheit; ohne das Blut würde es kein menschliches Leben geben. So ist es wohl kein Zufall, dass Katharina diesen typisch und exklusiv weiblichen Vorgang – wenn auch unreflektiert – aufgreift, um die Eucharistie vor allem vom Blut Christi her und die Kirche insgesamt als göttlichen Blutkreislauf zu deuten. Katharina war kein mittelalterliches Vorbild moderner Feministinnen. Aber mit der sanften Gewalt einer Frau und mit ihrer anschaulichen Sprache, die nicht nur direkt, sondern auch charmant sein konnte, hat sie Anstöße gegeben, um die Theologie aus den Fesseln rein maskuliner Begrifflichkeiten zu lösen.

Das Bild vom Blut wird noch in eine andere Richtung weitergeführt. Katharina schreibt: „Wir alle müssen durch die Pforte des gekreuzigten Christus. Und diese steht nicht anderswo als in der heiligen Kirche. Wer dem Christus auf Erden (d.h. dem Papst), der den Christus im Himmel vertritt, nicht gehorcht, der nimmt am Blut des Gottessohnes nicht teil. Denn Gott hat es so eingerichtet, dass durch dessen Hände Christi Blut und alle Sakramente zu uns kommen. Es gibt keinen anderen Weg und keine andere Pforte für uns“. Wie eng das Blut Christi, gleichsam der Jungbrunnen der Kirche, und der Nachfolger Petri, der „Christus auf Erden“, verbunden sind, zeigt sich darin, dass Katharina den Papst auch den „Kellermeister des Blutes“ nennt. Auf der anderen Seite nimmt sie aber kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, Papst Gregor XI. wieder auf den Weg in Richtung Rom zu bringen: „Seien Sie ohne Furcht: Gott will es. Gebrauchen Sie Ihre Macht und reißen Sie die stinkenden Blumen heraus, die im Garten der heiligen Kirche stehen, die schlechten Hirten, die sie in den Untergang führen. Kehren Sie zurück nach Rom! Vergeben Sie mir meine Überheblichkeit. Gott will es, und ich will es. Mehr sage ich nicht“. Und an Urban VI. schreibt sie ohne Umschweife: „Seien Sie kein ängstlicher Säugling. Seien Sie doch ein Mann!“ Es gilt auch Ihnen, liebe Brüder: Dem Säuglingsalter sind Sie längst entwachsen. Auch sollten Sie keine „Mamasöhnchen“ sein. In Italien heißen solche Männer „mammoni“. Gerade bei Priestern gibt es das sog. „Muttersohn-Syndrom“. Umgekehrt bitte ich die Mütter unserer Neupriester im Blick auf ihre Söhne: Wenn noch nicht geschehen, jetzt ist die Zeit fürs Abnabeln. 

Von Katharina können wir schließlich auch lernen, was Kritik an der Kirche heißt. Sie war eine Meisterin in der Unterscheidung der Geister. Sie wusste zu trennen zwischen dem Papst als „Christus auf Erden“, dem „Kellermeister des Blutes Christi“, und den allzu menschlichen Schwächen, die den Amtsinhabern anhaften können. Katharina ermutigt uns, unsere Liebe zur Kirche immer mehr zu vertiefen und auf das Wesentliche hin freizulegen. 

Liebe Weihekandidaten, nach der Zeit der „Flitterwochen“, die ich Ihnen als Primizianten gönne, werden auch Sie mit Kritik leben müssen. Nehmen Sie auch solche Worte an, die den Ohren nicht schmeicheln. Blocken Sie nicht ab! Lassen Sie sich nicht entmutigen! Aus eigener Erfahrung weiß ich: Gut gemeinte Kritik, ehrlich und konstruktiv, hat mich schon oft weitergebracht. Freilich sollte Kritik nicht bissig, sondern mit Liebe geäußert werden. Ihrer liebenden Leidenschaft für das Wohl der Kirche ist es zu verdanken, dass Katharina gehört wurde.

Liebe Diakone kurz vor der Priesterweihe! Jesus ist kein Heiland, von dem gleichsam geheime Kräfte ausgehen, und der mit göttlicher Macht alles Leid um uns herum wegzaubert. Selbstverständlich könnte ER das! Aber ER wählt einen anderen Weg. ER ist der Gottmensch, der sich ganz persönlich den Menschen zuneigt. ER nimmt einen jeden wahr - wie schüchtern, vielleicht sogar "zitternd vor Furcht" (Mk 5,33) er sich IHM nähert. Sie, liebe Kandidaten, nähern sich IHM – und ER nähert sich Ihnen. Mit der Weihe möchte ER Ihnen in Fleisch und Blut übergehen. Die Weihe ist eine heilende Begegnung. Aber diese heilende Begegnung kommt nur zustande, wenn Sie sich auf Gott einlassen, wenn Sie IHM Ihr Leben weihen. Daher legen Sie sich jetzt auf den Boden. So erwächst aus der Weihe Jesu heilendes Wort, das ER der blutflüssigen Frau zusprach: "Dein Glaube hat dir geholfen. Geh und wirke in Frieden." (vgl. Mk 5, 34)

29.06.2021 - Kirche , Predigt