Predigt bei der Weihe der Hauptorgel in der Basilika St. Lorenz Kempten

Gott ist Luft!

Liebe Schwestern und Brüder!

Dass Ihr Pfarrer Monsignore Bernhard Ehler ein Prediger ist, der über Rundfunk und Fernsehen weit über Kempten hinaus einen guten Namen hat, wissen wir. Doch am Allerseelentag war es nicht der Kemptener Pfarrer, der im Bayerischen Fernsehen einen Auftritt hatte, sondern die Basilika selbst hier im Herzen von Kempten. Es ging um die drei Orgeln, die mit ihrem Klang den Kirchenraum erfüllen. „Die Orgeln in der Basilika St. Lorenz in Kempten“, wurde berichtet, „sahen zwar von außen noch ganz gut aus, das Innenleben allerdings ließ zu wünschen übrig. Ventile klapperten, Pfeifen quietschten, obwohl sie gar nicht gespielt wurden. Deshalb werden alle drei Orgeln saniert und neu aufeinander abgestimmt: der Reihe nach und für knapp 1,3 Millionen Euro. Die Hauptorgel ist schon so gut wie fertig.“

Es ist für mich heute ein Tag der Freude und eine hohe Ehre, dass mich der Basilikapfarrer eingeladen hat, die Hauptorgel zu weihen, ehe dann die beiden kleineren Chororgeln hoffentlich im nächsten Herbst wieder hergestellt sind. Heute lenken wir unseren Blick auf die Hauptorgel: Gratulation zu dieser wahren Königin der Instrumente, die wie eine Dame mit prachtvoller Robe den Sakralraum dominiert – zur Freude der Menschen und zur größeren Ehre Gottes!

In der Konstitution über die hl. Liturgie des Zweiten Vatikanischen Konzils lesen wir: „Die Pfeifenorgel soll in der lateinischen Kirche in hohen Ehren gehalten werden; denn ihr Klang vermag den Glanz der kirchlichen Zeremonien wunderbar zu steigern und die Herzen zu Gott und zum Himmel zu erheben.“ (SC 120) Während die Ostkirche nur die menschliche Stimme vor Gott in der Liturgie erklingen lässt, gehört es zur Tradition der Westkirche, dass ein kostbares Instrument das Gotteslob verschönert und verfeinert. 

Vorher durfte ich mit der feierlichen Weihe die alte Hauptorgel aus dem Jahr 1866, die auf Eberhard Friedrich Walcker  (1794-1872) zurückgeht, neu ihrer Bestimmung übergeben. Mit dem Präludium D-Dur von Johann Sebastian Bach hat Chordirektor und Organist Benedikt Bonelli schon vieles von der prächtigen Klangfülle herausgeholt, die in dem neuen alten Instrument schlummert. Gern stimme ich in seine Freude über das gelungene Werk ein, die er so umschrieben hat: „Wir waren fast drei Jahre ohne diese Hauptorgel und haben vorne auf den Chororgeln gespielt. Ich war fast jeden Tag auf der Empore und habe immer wieder etwas Neues gehört, etwas Neues gesehen. Es ist ein langsames Mitwachsen, deshalb ist die Freude umso größer.“

Es geht um ein langsames Mitwachsen – auch im geistlichen Leben, im Leben dieser für die Stadt Kempten und das Allgäu so bedeutenden Päpstlichen Basilika. Die Orgel lässt uns hineinwachsen in das Geheimnis der Kirche. Ich lade Sie ein, im Hören auf die frisch geweihte Orgel dem Mysterium dessen nachzuspüren, was geistliche Gemeinschaft ist. Was kann die Orgel dazu sagen? 

Um den Pfeifen einen Ton zu entlocken, muss der Organist eine Taste drücken, durch die ein Ventil geöffnet wird; erst dann strömt die Luft durch die Pfeife, und es erklingt ein Ton, je nach Größe und Stimmung der Pfeife. Auch wir Menschen können nur dann sprechen oder singen, wenn wir vorher Luft geholt haben – ohne Atem können wir überhaupt nicht leben. Wenn die Bibel und die Texte der Liturgie vom Heiligen Geist reden, dann wählen sie oft das Bild vom Atem, vom Wind, von der Luft. Die Orgel soll uns daran erinnern: Was wir als Christen einander zu sagen haben, das soll im Heiligen Geist, gleichsam mit dem Atem Gottes ausgesprochen werden. Das gilt vor allem denen, die in einer Gemeinde im Dienst der Verkündigung stehen: den Priestern, hauptberuflichen und auch den vielen ehrenamtlichen Frauen und Männern, die das Evangelium den Menschen von heute anbieten. Es kommt nicht darauf an, dass irgendetwas gesagt oder schön geredet wird; vielmehr geht es darum, dass der Atem des Heiligen Geistes für einen guten Ton und Klang in der Gemeinde sorgt. Wir müssen nur das Ventil für ihn öffnen: Dann tut er das Seine.

Lassen Sie mich diesen Gedanken etwas erläutern: Im Rahmen des Synodalen Weges, den wir in Deutschland seit fast einem Jahr gehen, bin ich im Forum, das über „die priesterliche Existenz“ berät. Wir fragen uns, wie das Leben der Priester heute gelingen kann – als Mensch, als Christ, als Zeuge des Glaubens. Ein Mitglied unserer Arbeitsgruppe, dem die ganze Diskussion zu wenig geistlich war, warf den Satz in den Ring: „Für viele hier ist Gott Luft.“ Eigentlich wollte er damit seiner Unzufriedenheit Ausdruck verleihen. Doch je länger ich darüber nachdenke, umso mehr geht mir auf, dass der Kritiker eigentlich Recht hat: „Gott ist Luft.“ Sein Heiliger Geist ist Luft, Atem, frischer Wind. Wenn die Hauptorgel braust, oder wenn sie säuselt oder den Gesang begleitend stützt, dann geht das nur mit Luft. So ist es auch mit dem Leben der Kirche. Nicht die erneuern unsere Gemeinden, die sich als Windmaschinen gebärden, sondern diejenigen, die sich dem Rückenwind des Heiligen Geistes aussetzen. Dann geht es voran – nicht nur strukturell und organisatorisch, sondern geistlich und seelsorglich. Daran soll Sie die Orgel erinnern, die auf ihre Weise zu einem Instrument der Verkündigung wird und uns daran erinnert, das Evangelium überall dort bekannt zu machen, wo es noch nicht angekommen ist. Daher wünsche ich mir, dass auch außerhalb der Liturgie die Orgel eingesetzt wird – bei Konzerten und Meditationen, um selbst die Herzen derMenschen anzurühren, die sonst vielleicht nicht mit der frohen Botschaft in Berührung kommen würden. Für mich ist die Orgel eine charmante Möglichkeit christlichen Zeugnisses im Sinn des hl. Augustinus, der meinte: „Erklären können wir’s nicht, verschweigen können wir’s nicht, also singen wir.“ (Enarrationes in psalmos). Was wäre ein Leben ohne Gesang? Was wäre ein Gottesdienst ohne Musik? „Wer singt, betet doppelt“, sagt derselbe Augustinus. Und Beten brauchen wir in dieser Zeit doppelt so viel.

Nehmen wir noch einmal die Hauptorgel in den Blick: Sie besteht aus vielen hundert Pfeifen, die alle zusammenklingen. Die Geschichte über das Instrument erzählt, dass gut 70 Jahre nach seiner Fertigstellung versucht wurde, die Orgel um moderne, helle Klänge zu ergänzen. Doch die filigranen Pfeifen konnten sich gegenüber den fülligen Original-Stimmen nie richtig durchsetzen. Das sei jetzt anders: Die ursprüngliche Orgel wurde rekonstruiert und so modifiziert, dass die hinzugefügten Pfeifen das Instrument auch wirklich ergänzen. Mehr als 4500 Pfeifen mussten dafür ab- und wieder aufgebaut und schließlich neu gestimmt werden. Ich habe gerade über Pfeifen gesprochen. Einmal hat jemand etwas spöttisch gefragt: Was verbindet die Kirche mit einer Orgel? Die Antwort lautete: Die größten Pfeifen stehen immer ganz vorne. – Wenn wir von einem Menschen sagen: „Der ist eine Pfeife!“, dann ist das fürwahr kein Kompliment. Und trotzdem dürfen wir uns persönlich und eine christliche Gemeinde mit Pfeifen vergleichen. Die Hauptorgel setzt sich zusammen aus vielen Pfeifen, und verschiedene Gruppen von Pfeifen bilden Register. Da gibt es die hellen und die schrillen Töne, die zum Aufbruch blasen, wie die Trompeten im Buch Numeri (Num 10,1ff.), und forsch voran wollen. Aber wir dürfen auch die dunkleren, verhalteneren Töne nicht überhören, die eher zum Stehenbleiben mahnen und nichts überstürzen wollen. 

Sie merken schon, liebe St. Lorenzer, was ich damit sagen will: Wie die Orgel, so ist auch Ihre Pfarrgemeinde ein Zusammenspiel von verschiedenen Tonlagen und Klangfarben; je nach dem vorgegebenen Stück hört man mal mehr die einen, dann wieder mehr die anderen. Doch die Komposition – nicht nur musikalisch, sondern auch theologisch – lebt davon, dass viele Pfeifen erklingen, dass der Organist mit den verschiedenen Registern die Herzen der Menschen berührt und ergreift. Im Bild von den Pfeifen und Registern soll die Orgel Sie stets daran erinnern: Wir müssen als Gemeinde zusammenklingen, wir dürfen einander nicht übertönen, geschweige denn die Luft abschneiden. Der gemeinsame Gesang, unterstützt durch die Orgel, ist in diesem Sinn eine Art Exerzitium, eine geistliche Einübung in das Miteinander-Beten und -Handeln als Gemeinde, die den Namen „christlich“ verdient. Wenn wir noch einen kleinen Schwenk auf das Evangelium machen, dann wird deutlich: Was wir heute mit den Orgelpfeifen vor Augen haben, das beschreibt Jesus im Gleichnis von den Talenten. Das heißt konkret: Die Pfarrgemeinde St. Lorenz ist ein großer Talentschuppen. Helfen wir einander, unsere Talente zu entdecken, zu heben und zu vervielfältigen, damit die Gemeinde wächst und über den Reichtum der Gaben, die in ihr stecken, nur so staunen kann.

Die Hauptorgel ist fertig. Die beiden Chororgeln sind noch in Arbeit. Drei Orgeln birgt die Basilika. Wenn einmal alle drei in Stand gesetzt sind, kann hier Musik vom Frühbarock bis in die heutige Zeit originalgetreu gespielt werden. In St. Lorenz wird eine besondere „Orgellandschaft“ entstehen, und das sei laut Kirchenmusiker Bonelli „einmalig“. Auch Ausflüge in die beliebte französische Romantik seien nun möglich: zwar nicht mit authentisch französischem Klang, aber überzeugend mit bayerisch-schwäbischen Akzent!

Doch über das Musikalische hinaus möchte ich den Bogen noch weiter spannen. Am Reformationsfest war ich in der großen evangelischen St. Georgskirche in Nördlingen, um die Festpredigt zu halten. Dort gibt es zwei Orgeln. Und diese zwei Orgeln wurden gleichzeitig gespielt von einem evangelischen und einem katholischen Organisten. Das hat mich tief bewegt, besonders der Moment, als das Veni Creator Spiritus erklang. Hier in Kempten wird die Ökumene groß geschrieben. Vor einigen Jahren entstand sogar eine lokale ACK, eine Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen. Dazu gehören nicht nur die katholische und die evangelische Kirche, sondern auch zahlenmäßig kleinere Konfessionen. Könnte die Geographie der drei Orgeln in dieser Basilika nicht eine Einladung sein, zusammenzufinden zu ökumenischem Spiel! Wie wäre es, wenn die Christen von Kempten, begleitet vom Klang der drei Orgeln, miteinander einstimmen in das Lob Gottes, wie es Psalm 150 intoniert, der dem ganzen Psalter ein Siegel einprägt. Da könnten alle Register gezogen werden:

Halleluja!

Lobet Gott in seinem Heiligtum, lobt ihn in seiner mächtigen Feste!

Lobt ihn für seine großen Taten, lobt ihn in seiner gewaltigen Größe!

Lobt ihn mit dem Schall der Hörner, lobt ihn mit Harfe und Zither!

Lobt ihn mit Pauken und Tanz, lobt ihn mit Flöten und Saitenspiel!

Lobt ihn mit hellen Zimbeln, lobt ihn mit klingenden Zimbeln!

Alles, was atmet, lobe den Herrn! Halleluja!         

18.11.2020 - Bistum Augsburg , Gottesdienst