Letzte Ansprache von Domprediger Bertram Meier

Petrus Canisisus: der zweite Apostels Deutschlands

Wir schreiben den 2. September 1549. Der Priester, der soeben den Segen von Papst Paul III. für eine besondere Mission empfangen hat, kniet am Grab des Apostelfürsten Petrus nieder, um dort zu beten. So tief wird ihn das, was er dabei innerlich verspürt, zeitlebens prägen, dass er in einem Fragment seiner Bekenntnisse notiert: „Du weißt, o Herr, wie sehr und wie oft du mir an jenem Tag Deutschland anvertraut hast, für das ich beständig Sorge trage und all meine Kräfte einsetzen sollte. Mein Verlangen war, für Deutschland zu leben zu sterben.“

Der Missionar für Deutschland heißt Petrus Canisius. Vom Grab des hl. Petrus lässt er sich senden. Alles, was dieser päpstlichen Sendung vorausging, ist nur Vorbereitung auf die heikle Mission: Studien in Köln, Eintritt in die junge, aufstrebende Gesellschaft Jesu, Priesterweihe, Promotion zum Doktor der Theologie, Tätigkeit als Berater auf dem Reformkonzil von Trient. Jetzt wird er vom Papst in Dienst genommen. Korrekter müssten wir sagen: Der Papst beruft ihn als „Mitarbeiter für die Wahrheit“ (vgl. 3 Joh 8). Sein Lebensprogramm wird zum geistlichen Tagesbefehl: fast fünfzig Jahre lang jeden Tag als „cooperator veritatis“ Deutschland neu evangelisieren.

Dieses Projekt ist in der Tat ein gigantisches „geistliches Experiment“: Nicht nur weil Deutschland damals ein viel größeres Gebiet umfasste als heute, sondern weil die katholische Kirche nach der Katastrophe der Reformation sich in einem teilweise desolaten Zustand befand. Die Diagnose des Deutschland-Missionars lautete: „Allgemein gesprochen möchte ich sagen, dass man unter den heutigen Deutschen vergebens nach praktischem Interesse an der Religion sucht. Der Gottesdienst der Katholiken ist so ziemlich auf das Halten einer ohne alle Begeisterung vorgetragenen Predigt an Festtagen beschränkt. Was vom Fasten in der Fastenzeit übrig ist, ist bloß der Name. Denn niemand fastet. Ob und wie selten besucht ein Mann die Kirche und die heilige Messe oder bekundet durch irgendein äußeres Zeichen, dass er noch Freude hat am alten Glauben! Die Lage ist danach, einen, der sie ernstlich erwägt, das Herz still stehen zu lassen. die Häresie kann weder durch Gewalt noch durch Reform überwunden werden, und wir sind beim besten Willen machtlos, den verloren gegangenen Glauben wiederherzustellen, weil es zu wenig Priester gibt oder in Wahrheit keine.“

Trotz dieses ernüchternden Befundes lässt sich Petrus Canisius nicht entmutigen. Neben Ausdauer und Treue zeichnet ihn besonders seine ansteckende Zuversicht aus: „Die Angst vieler ist größer als notwendig, da man nach menschlicher statt nach göttlicher Hilfe Ausschau hält und in Verzweiflung statt in heiligem Vertrauen nach Hilfe für die daniederliegende Kirche sucht.“ Obwohl Canisius bisweilen den Eindruck hatte, ins Leere hinein zu arbeiten, überließ er sich und sein Wirken ganz Gott, den er als Herrn der Kirche glaubte. Damit setzte er Akzente, die den Menschen der Postmoderne provozieren. 

Mut zur Kirche

Hinter der Kirche treten jedes persönliche Interesse und alle Ambitionen zurück. Das Große an Petrus Canisius liegt darin, dass er klein wurde hinter seinem grandiosen Werk. Er ging ganz auf in seinem Auftrag, den er von seinem Ordensgeneral Ignatius empfangen hatte, und der am Petrusgrab in einer tiefen spirituellen Erfahrung begründet wurde. Diese apostolische Sendung hat ihm Kraft und Mut gegeben, weil er sich bewusst war, dass er in Deutschland nicht seine eigenen Pläne zu verwirklichen hatte, sondern ein kirchliches Projekt. Canisius war kirchlich und römisch bis in die Knochen, nein bis ins Herz. In seinem Herzen lebte die Kirche. Er verstand sich als Werkzeug des Herrn. Dabei war er weder mechanische Marionette noch nachplappernder Papagei, sondern ein lebendiges Werkzeug, ein Instrument mit Leib und Seele; mit Haut und Haar hat er sich der Kirche verschrieben. 

Canisius ist kein glatter Heiliger, er stillt nicht sofort den Hunger nach Emotion und den Durst nach dem peppigen Event. Er ist ganz und gar Diener des Evangeliums, wie die Apostel. So wird er nach Bonifatius mit Recht als der „zweite Apostel Deutschlands“ bezeichnet. Obwohl er durchaus mit und an der Kirche und deren Schwächen leiden konnte, meckert er nicht an ihr herum. Selbst bittere Erfahrungen mit der eigenen Gemeinschaft der Jesuiten, in der er als Provinzial Leitungsvollmacht innehatte und merkte, wie menschlich es dort zugehen kann, haben seiner Kirchlichkeit keinen Abbruch getan. In seinem „Glaubensbekenntnis“ lesen wir: „Andere lästern, verachten, verfolgen die römische Kirche und verwünschen sie als das Reich des Antichrists. Ich aber bekenne mich als ihren Bürger. Von ihrem Spruch weiche ich auch nicht einen Finger breit ab. Um für sie Zeugnis abzulegen, will ich gerne mein Blut vergießen. Mit Hieronymus sage ich frei heraus: ‚Wer zum Stuhle Petri hält, der ist mein Mann.’ Mit Ambrosius begehre ich, der römischen Kirche in allen Stücken zu folgen. Mit Cyprian bekenne ich ehrfurchtsvoll, dass sie der katholischen Kirche Wurzel und Grundstock ist.“ 

Mut zur Wahrheit

Die Person des Canisius wird von der Kirche gleichsam absorbiert. Wenn wir jedoch bei der Kirche stehen bleiben, greifen wir zu kurz. Die Kirche selbst steht in einem höheren Dienst. Sie dient der Wahrheit. Die Wahrheit ist nicht selbst gemacht, sondern vorgegeben. Petrus Canisius hat sich weggegeben an diese Vorgabe, die keine Sache ist, sondern Person: Jesus Christus, der die Gemeinschaft der Kirche um sich sammelt. Manchmal wird an Canisius kritisiert, dass man in seinen Werken die spekulative Kraft und die kreative Idee vermisse. Wer solches äußert, hat den Apostel Deutschlands nicht verstanden. Denn ihm ging es nicht um seinen Namen, um seine Lehre, um seinen Ansatz, sondern darum, in einer unübersichtlichen Zeit der Verunsicherung die Menschen im Glauben zu festigen: „So will ich denn in mir und anderen einen größeren Eifer erwecken, dass das katholische Glaubensdepositum, das der Apostel uns nicht grundlos ans Herz legt und das allen Schätzen dieser Welt vorzuziehen ist, hochgeschätzt und unverkürzt und unverfälscht bewahrt werde, da von ihm christliche Weisheit, allgemeiner Friede und Heil der Menschen zutiefst abhängig sind.“ 

Diese Aufgabe kann nur von Theologen bewältigt werden, die bescheiden und demütig sind. In Zeiten der Krise und der Stabilisierung sind nicht so sehr die Lipizzaner gefragt, die sich selbst gefallen, sondern die gediegenen Haflinger: treue Zugpferde, die den Karren der Kirche sicher durch die Geschichte ziehen. Aus dem Bild ins Leben übertragen: Die Aufgabe die Wahrheit des Evangeliums zu bewahren, leistet nur ein Theologe, der seinen Standpunkt nicht in kritischer Distanz zur Kirche einnimmt, sondern als deren Glied in ihrer Mitte beheimatet ist. Nur wenn sein Suchen und Fragen, sein Forschen und Schreiben fest im Leben der Kirche verankert sind, taugt der Theologe als authentischer Gesprächspartner für Andersdenkende und Andersgläubige. Dem Petrus Canisius ist dies gelungen: Verwurzelt in der Tradition der Kirche, eingespannt in die Zerreißproben seiner Zeit – sowohl mit den Anhängern der Reformation als auch mit den Zuständen in der eigenen Kirche, blieb er seinem Grundsatz treu, auf überspitzte Polemik zu verzichten, Polarisationen nicht weiter zu schüren und sich darauf zu konzentrieren, die katholische Lehre sachlich darzulegen, ohne die Gegner auch nur zu nennen, geschweige denn sie öffentlich anzugreifen. 

Neben der Front, die durch die Reformation entstanden ist, machte Canisius auch eine Front innerhalb der Kirche aus, gegen die er vehement angeht. Für ihn zählt nicht nur die Wahrheit, sondern vor allem auch die Wahrhaftigkeit. Denn Rechtgläubigkeit ruft nach Glaubwürdigkeit. Dass der Bischof von Augsburg Otto Kardinal Truchseß von Waldburg romtreu war, steht außer Zweifel. Doch so verdienstvoll diese Treue zum Papst auch ist, was nützt sie, wenn die Glaubwürdigkeit des Lebenswandels zu wünschen übrig lässt? Canisius nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er seine Beziehung zum Bischof von Augsburg so beschreibt: 

„a) Der Kardinal ist mir sehr zugetan, so dass er seine Würde zu vergessen scheint und sein Leben in allem unserem Urteil unterwirft. Er zeigt besondere Demut und trägt sich ernsthaft mit dem Gedanken, sich selbst zu ändern. 

b) Um die Kirche von Augsburg steht es schlechter als man glauben kann, und inzwischen belastet ihr Bischof sein Gewissen mit so großen Bürden, dass ich mich wundern muss, wie er ruhig schlafen kann. Ich bitte, mir meinen Freimut zu verzeihen, wenn ich so offen rede. Aber ich liebe meinen Herrn Kardinal Otto, dem ich vor allen verbunden bin. Mir wäre lieber, er lebte ohne sein Bischofsamt, als dass er sich nur des Titels erfreut, und die Schafe, von deren Wolle er sich nährt, nachlässig weidet. Mögen andere auf die zeitlichen Vorteile schauen, ich berufe mich auf das künftige Gericht und betrachte die Strafen, die den schlechten Verwalter erwarten, mit größter Furcht.“

Mut zur Katechese

Kirche und Wahrheit brauchen Verinnerlichung. So ist die „Einführung ins Christentum“ (Joseph Ratzinger) eine Einübung in das christliche Leben. Petrus Canisius bleibt auch insofern aktuell, weil er uns Mut macht zur Glaubensunterweisung. Die „Weitergabe des Glaubens“ ist uns Herzensanliegen und Kreuz zugleich. Denn das lange tragende Verhältnis von Kirche und Kultur droht ganz auseinander zu brechen. Weder der Religionsunterricht noch die Sakramentenkatechese noch die kirchliche Jugendarbeit können im Moment große Erfolge verbuchen. Was ist zu tun?

Zwar hat Petrus Canisius kein Patentrezept, das wir einfach kopieren könnten. Aber sein Ansatz ist klar: Er hat die altkirchliche Katechese wieder entdeckt. Da geht es nicht um rein intellektuell-informative Belehrung, sondern um Aneignung: das Hineinwachsen in die aktive Teilnahme am Leben der Kirche. Der „Katechismusglaube“ ist heute eher negativ besetzt, weil man ihm nachsagt, dass er zu wenig personal und emotional sei. Doch Inhalt und Form gehören zusammen, Glaubensvollzug braucht auch Glaubensinhalt. Hans Urs von Balthasar bringt dieses Dilemma treffend auf den Punkt: „Auf der einen Seite die Knochen ohne Fleisch: die überlieferte Dogmatik, auf der anderen Seite das Fleisch ohne Knochen: jene ganz fromme Literatur, die aus Aszetik, Spiritualität, Mystik und Rhetorik eine auf Dauer unverdauliche, weil substanzlose Kost vermittelt.“

Petrus Canisius ging es um die Substanz. Mit dem Aufbau der großen Kollegien, dem Schreiben von Katechismen – Handbüchern des Glaubens für verschiedene Leserschaften - , dem liebevollen Kultivieren traditioneller Frömmigkeitsformen und nicht zuletzt durch die persönliche Begleitung suchender Menschen in den Exerzitien ist es ihm und seinen Mitstreitern gelungen, die katholische Kirche aus der Defensive herauszuführen und für sie eine neue Blüte vorzubereiten.

Wie steht es heute?

Ist es nicht ein Zeichen der Zeit, dass der Wunsch nach Seminarien und Internaten immer lauter wird?

Ist es nicht ein großes Angebot, das der hl. Papst Johannes Paul II. der Kirche mit seinem Weltkatechismus gemacht hat? 

Ist es nicht ein echtes Ausrufezeichen, dass sein Nachfolger Papst Benedikt XVI. sein Amt wie Petrus Canisius als „Mitarbeiter an der Wahrheit“ verstanden und auf seiner pastoralen Prioritätenliste die Neu-Evangelisierung als neue Evangelisierung ganz oben angesetzt hat? 

Ist es nicht für die Kirche eine Chance, wenn Prozessionen und Wallfahrten wieder im Kommen sind, und sich die Menschen davon ansprechen lassen?

Ist es nicht ein Wink des Heiligen Geistes, dass wir die geistliche Begleitung, Exerzitien und Besinnungstage neu schätzen gelernt haben?

Petrus Canisius hat seine Predigten, Konferenzen und Katechesen gründlich vorbereitet. Die Worte, mit denen Romano Guardini seine letzte Vorlesung schloss, könnten auch über dem Lebenswerk des zweiten Apostels Deutschlands stehen: „Die Mode geht und kommt, aber die Wahrheit bleibt.“

19.07.2020 - Bistum Augsburg , Gottesdienst