Predigt des Bischofs Dr. Bertram Meier zum Jahresschluss 2020

Corona als Kulturkrise: Vorsätze zum neuen Jahr

Welch ein Jahr neigt sich dem Ende zu! Sicher geht das Jahr 2020 in die Geschichte ein. Es hat Kraft gekostet. Kaum hatten wir dem Winter Adieu gesagt, mussten wir uns mit einem ungebetenen Gast auseinandersetzen, der unser Lebenshaus gehörig ins Wanken bringt. Die vielen persönlichen und beruflichen, aber auch existentiellen und spirituellen Erfahrungen, die uns gegenwärtig beschert werden, lassen mich an ein Wort des Propheten Jesaja denken: „Die Erde birst und zerbirst, die Erde bricht und zerbricht, die Erde wankt und schwankt. Wie ein Betrunkener taumelt die Erde, sie schwankt wie ein Schutzdach für die Nacht. Schwer lastet ihr Vergehen auf ihr, sie fällt und steht nicht mehr auf.“ (Jes 24,19-20) Ist es nicht so, wenn wir auf das vergangene Jahr zurückschauen, dass wir uns vorkommen wie auf einem großen Schiff, das hin und her schwankt und taumelt? Wie auf der Titanic, die – obwohl als unsinkbar eingestuft – durch eine Kollision mit einem Eisberg aufgeschlitzt wurde und wenige Stunden danach im Meer versank? Fühlen wir uns nicht seit Monaten mit wenigen Unterbrechungen wie unter einem löchrigen, völlig ungenügenden Schutzdach, das von Sturm und Regen gepeitscht, beinahe jeden Moment ganz weggerissen werden kann? 

Dabei ist das Corona-Virus nur die eine Sorge. Vieles bewegt uns darüber hinaus: Terror und Gewalt – auch im Namen Gottes! -, Unfrieden und Krieg, Ausbeutung der Schöpfung und Naturkatastrophen, Einschränkung der Freiheit, Revolutionen und noch anderes mehr. Obwohl ich den Politikerinnen und Politikern, die uns schon monatelang mit viel Kompetenz und ruhiger Hand durch die Krise leiten, Anerkennung und Wertschätzung zolle, schaue ich auch mit Unsicherheit und Besorgnis in die Zukunft. Da genügt ein Blick auf die Zersplitterung unserer Gesellschaft. Dumpfe Töne gegenüber Menschen anderer Kulturen, Religionen und Nationalitäten werden lauter – und salonfähiger. Da kann ich nur sagen: Obsta principiis. Wehret den Anfängen! Hören und schauen wir genau hin, was sich da entwickelt! Lassen wir uns nicht manipulieren! Vor allem prüfen wir selbstkritisch, mit wem wir uns gemeinsam zeigen – politisch und kirchlich, im wirklichen Leben oder digital! Wer dazu neigt, sich mit Leuten zu verbünden, die an den Grundpfeilern der Demokratie sägen oder innerkirchlich der Einheit schaden wollen, anstatt sich von diesen Bewegungen klar und aktiv abzugrenzen, macht sich mit ihnen gemein. (vgl. Frank-Walter Steinmeier 31.8.2020) Es reicht auch nicht, beim Politikercheck nur einige für uns Katholiken zweifellos wichtige Punkte wie den unbedingten Schutz des menschlichen Lebens zu prüfen und dann eine Unbedenklichkeitserklärung für alles andere daraus abzuleiten.  

Als einer, der viele Jahre in Italien gelebt hat, weiß ich, dass dort Streiks und Demonstrationen zum Alltag gehören. Aber hier bei uns in Deutschland war das bis vor kurzem eine Ausnahme. Auch die sog. Querdenker, unter deren Dach sich viele verschiedene Personen und Gruppen sammeln, zeigen, dass unsere Gesellschaft Gefahr läuft, sich zu polarisieren und zu spalten. Das schafft noch mehr Unsicherheit. Das ist keine Alternative für Deutschland.

Wenn ich all diese Elemente zusammenlege, dann frage ich mich, ob nicht der Abschnitt aus der Lesung, den wir eben hörten, punktgenau in unsere Situation hineinspricht: „Meine Kinder, es ist die letzte Stunde.“ (1 Joh 1,18) Die Kirche hat diesen Text bestimmt für heute gewählt, weil wir uns in den letzten Stunden des Kalenderjahres befinden. Der gesamte Abschnitt spricht davon, dass Kräfte am Werk sind, die gegen Christus stehen (der sog. Antichrist); der Autor will uns aber auch ermutigen, der Kraft des Geistes Gottes, den wir in Taufe und Firmung empfingen, noch mehr zu trauen. Er will die Gemeinde von den Kräften der Lüge reinigen, welche die Wahrheit verdrehen. Als Gegengewicht zu negativen Kräften und Energien – wir würden sie heute vielleicht fake news nennen – erinnert er die Adressaten daran, auf die kraftvolle Stärkung zu bauen, die jedem einzelnen durch die Salbung mit dem Heiligen Geist geschenkt wurde. Damit würde die Generation seiner Zeit vorbereitet auf die Ankunft Christi, die er wohl mehr in greifbarer Nähe sah, als wir es heute für uns erwarten. 

Ohne apokalyptische Szenarien zu entwerfen, geht offensichtlich ein Jahr zu Ende, das unser Leben plötzlich rasant und dramatisch verändert hat. Und wir wissen noch immer nicht, wohin dieser Prozess uns führt und wie lange er noch dauert. Die Impfung ist ein Signal, aber kein Selbstläufer, um die Pandemie in die Knie zu zwingen. Denn Corona ist auch eine Kulturkrise. Ein Wort, das meinen Vater als Konfirmationsspruch durchs Leben begleitete und das unsere Familie in sein Sterbebildchen drucken ließ, gibt mir auch an dieser Schwelle in ein neues Jahr Hoffnung und Zuversicht: „Siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20) Immanuel – Gott ist mit uns!

Weil Gott mit uns ist, habe ich mir für das kommende Jahr ein paar Vorsätze überlegt, die ich mit Ihnen teilen will:

Werde nicht abergläubisch!

Zunächst schaue ich noch einmal auf 2020 zurück: ein auch für mich persönlich bewegendes Jahr. Wie habe ich mich gefreut, als am 29. Januar bekannt gegeben wurde, dass mich Papst Franziskus zum Bischof von Augsburg und damit zum 62. Nachfolger des hl. Ulrich ernannt hat! Viele freuten sich mit; der Dom war voll – mittags um Zwölf. Dann haben zahllose fleißige Leute sich an die Planung der Bischofsweihe gemacht. Ein großes Fest des Glaubens sollte es werden. Als Voraussetzung für einen Bischof in Bayern gilt, dass er vorher noch den Eid auf die Bayerische Verfassung ablegt. Auch diese Feierstunde im Prinz-Carl-Palais in München bei Ministerpräsident Söder war schön. Doch noch am gleichen Tag kam die „kalte Dusche“: die Bischofsweihe muss eine Woche, bevor sie stattfinden sollte, abgesagt werden. Schuld ist das grassierende Corona-Virus. – Wenn ich zurückdenke an diesen merkwürdigen Tag, stelle ich fest: es war der 13. März, noch dazu ein Freitag.

Da könnte man abergläubisch werden. Wir betrachten die 13 als Unglückszahl, als „Dutzend des Teufels“. Bei manchen Airlines gibt es im Flugzeug keine Reihe 13. Wir kennen Hochhäuser ohne 13. Stock und Hotels ohne Zimmernummer 13. Doch Vorsicht! Andere Länder - anderer Aberglaube. Spanier fürchten sich vor dem Dienstag, wenn er auf einen 13. fällt. In Italien ist es der Freitag, wenn er ein 17. ist. In der jüdischen Tradition hingegen gilt 13 als Glückszahl. Und in Fatima erschien die Muttergottes sechs Monate lang jeweils am 13. 

Was hilft dagegen? Realistisch bleiben, den Glauben stärken, einander Mut machen. Die Corona-Maßnahmen, die uns auferlegt werden, sind belastend, aber zu unserem Schutz. Was ich im Weihegebet der Diözese an Maria gesprochen habe, wiederhole ich am Ende dieses Jahres noch einmal: „Wir empfehlen dir die Familien, die Kranken, die Alten, die Alleinstehenden. In deine guten Hände betten wir sie ein.“ (25. März 2020) In allem, was wir erleben und erleiden, bitte nicht abergläubisch werden, sich nicht verrückt machen lassen und vor allem niemals in die Falle von Verschwörungserzählungen tappen!

Wahre die Einheit!

Viele fragen sich, wie es wohl mit der Kirche weitergehen wird. Auf zahlreichen „Baustellen“ rackern wir uns gerade hier in Deutschland ab. Um nur einige zu nennen: der Synodale Weg, den wir seit einem guten Jahr beschritten haben; der 3. Ökumenische Kirchentag, der für Mitte Mai in Frankfurt anberaumt war; das Thema „Missbrauch“ mit vielen Facetten; die Zukunft der Priesterausbildung in unserem Land. Angesichts der Erschütterungen, denen sich die katholische Kirche ausgesetzt sieht, macht das Wort die Runde, dass es jetzt „kurz vor 12 oder schon nach 12“ sei. Manche werden in ihrer Ungeduld noch deutlicher: „Wenn sich nicht bald, d.h. mit dem Synodalen Weg, etwas Grundsätzliches in der Kirche ändert, hat sie keine Chance mehr.“ Da frage ich mich schon: Haben wir das Recht, die Uhrzeit Gottes zu bestimmen? In der Kirche bricht und zerbricht manches. Das ist mittlerweile sonnenklar. Ebenso deutlich zeigt sich: Neues bricht auf. Wieviel Fantasie wurde investiert, damit wir Ostern mitten in der Krise irgendwie doch meistern und jetzt auch Weihnachten – so gut es möglich war – feiern konnten! Danke für alles Engagement, um dem Evangelium neue Wege zu bahnen; danke den jungen und alten Botinnen und Boten des Evangeliums!

Die Evangelisierung, die Papst Franziskus als DNA der Kirche bezeichnet, muss unser Kompass sein, wenn wir den Synodalen Weg weitergehen wollen. Es ist schade, dass dieser Weg schon vom Ziel her beschrieben wird, noch ehe er richtig begangen wurde. Es wird gemunkelt, dass nur dann, wenn bestimmte Reformen herauskommen, dieser Weg überhaupt von Erfolg gekrönt sei. Andere befürchten genau das Gegenteil: Sie sehen das katholische Glaubensgut in Gefahr und prophezeien sogar eine neue Spaltung der Kirche.

Manchmal hilft ein Seitenblick in ein ganz anderes Feld. Eheberaterinnen und –berater stellen fest, dass die Begleitung einer krisenhaften Beziehung nur dann Aussicht auf Versöhnung und Heilung bietet, wenn die beiden Gesprächspartner nicht von vornherein schon diesem Prozess keine Chance geben. So sollten wir uns davor hüten, einem Weg, der kirchlich nur unter der Führung des Heiligen Geistes sinnvoll ist, verfrüht in die eine oder andere Richtung eine schlechte Prognose zu geben. Vertrauen wir weiterhin auf den Heiligen Geist!

Im vergangenen Jahr bin ich ins Bischofskollegium aufgenommen worden und damit gehöre ich auch der Deutschen Bischofskonferenz an. Die Erfahrungen des Austauschs mit den Mitbrüdern, jeder von ihnen einmalig und wertvoll, zeigen mir im Blick auf unsere kirchlichen Baustellen, wie wichtig die Einheit unter uns ist. Ich greife ein aus Argentinien stammendes „zum Nachdenken anregendes und kraftvolles Sprichwort“ auf, das Papst Franziskus in seinem „Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ zitiert: „Vereint seien die Brüder, denn das ist das erste Gesetz; sie mögen die Einheit wahren zu jeder Zeit, denn wenn sie untereinander kämpfen, werden sie von den Außenstehenden verschlungen.“ (29.6.2019, 10) Wir müssen zusammenhalten! Es geht um die Gemeinschaft der Kirche. Wenn sie bröckelt, ergehen sich diejenigen in Schadenfreude, die nicht unsere Freunde sind.

Sei dankbar!

Am Ende dieses denk-würdigen Jahres frage ich mich: Was fließt aus der Kelter des Jahres 2020? Saurer Saft? Bitterkeit? Egoismus? Misstrauen? Kritiksucht? Wut? Traurigkeit? Oder vielleicht auch etwas wie junger Wein, neue Horizonte, Durchbruch, Weite, Mut, Freude, Gottes Lob?

Wenn ich persönlich die letzten Monate Revue passieren lasse, dann überwiegt bei mir trotz allem große und tiefe Dankbarkeit gegenüber meinem Herrgott – vor allem dafür, dass er mich geführt und mir Kraft gegeben hat für meinen Dienst als Hirte der Kirche von Augsburg. Ich weiß: So vieles von dem, was wir täglich hören und sehen, besonders auch über die Kanäle der Medien und der sozialen Netzwerke, ist negativ, manchmal auch boshaft und unter der Gürtellinie. Da müssen wir gegensteuern und uns anstrengen, um dieser verneinenden Kultur Paroli zu bieten. Paulus schreibt an die Galater: „Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! Eure Güte werde allen Menschen bekannt. Denn der Herr ist nahe.“ (Phil 4,4) Mein Vorsatz ist: Ich möchte ein gütiger und dankbarer Bischof sein, der barmherzig ist und Freude ausstrahlt.

Jede und jeder von uns wird eigene Wege suchen und finden, um Gott zu loben und zu preisen. Dankbarkeit und Gotteslob sind weniger liturgische Rituale, sondern Haltungen des Lebens. Dafür gibt es viele Formen.

Ich kenne eine schon etwas ältere Frau - eine passionierte Sängerin, die auch in der Zeit, als keine öffentlichen Gottesdienste gefeiert werden konnten, allein in ihre Pfarrkirche gefahren ist, um Gott aus voller Kehle zu loben durch ihren Solo-Gesang.

Ein weiteres Beispiel, vor dem ich mich verneige, sind die Worte aus der Feder des hl. Franz von Sales, die sich ein Pfarrer unserer Diözese in seiner Krankheit zu eigen gemacht und mir empfohlen hat: „Du darfst auf keinen Fall deinen inneren Frieden verlieren – auch dann nicht, wenn die ganze Welt aus den Fugen zu geraten scheint.“ Diesen Wunsch gebe ich gern an Sie alle weiter!

Werde nicht abergläubisch! Wahre die Einheit! Sei dankbar!

Diese drei Vorsätze nehme ich mit ins neue Jahr. Vielleicht ist ja auch einer für Sie dabei. Es sind „die letzten Stunden“ (vgl. 1 Joh 1,18). Was uns das nächste Jahr bringt, weiß keiner. Aber wir vertrauen darauf, dass die Erfahrung, die der Jesuit Alfred Delp im November 1944 im Berliner Gestapo-Gefängnis mit gefesselten Händen niederschrieb, auch unsere wird: „Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis zum Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen.“

Vor diesem Hintergrund wünsche ich Ihnen allen, auch im Namen meiner Mitbrüder im Bischofsamt und im Domkapitel, ein gesegnetes neues Jahr 2021!

04.01.2021 - Bischöfe , Bistum Augsburg , Predigt