Predigt von Bertram Meier, ernannter Bischof Apostolischer Administrator, zu Ostern 2020

Ostern ist eine Mutation: Jesu Leichnam ist weg, der Leib Christi ist da.

Unerhört! Wir singen Halleluja, doch Matthäus berichtet: „Sogleich verließen die Frauen das Grab voll Furcht“ (Mt 28,8). Noch drastischer lesen wir bei Markus: „Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatten sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich“ (Mk 16,8).

Ostern beginnt nicht mit Halleluja, sondern mit einem Verlust, der Angst und Schrecken einjagt. Jesu Leichnam ist weg. Die Frauen haben gesehen, wo und wie der reiche Pharisäer Josef von Arimathäa den toten Jesus bestattet hat. Sie kannten das Felsengrab, die Tücher, den Stein. Das alles haben sie beobachtet. Es hat sie geprägt und tiefe Spuren in ihnen hinterlassen. Am Ostermorgen ist alles noch da: das Felsengrab, die Tücher, der Stein. Aber der Leichnam fehlt.

Das Erschütternde dieses Verlustes können wir in diesen Tag besonders nachfühlen: wenn wir uns in Angehörige versetzen, die einen lieben Menschen verlieren, ohne zu erfahren, wie er die letzte Etappe seines Lebensweges gegangen ist. Wenn wir an Beerdigungen denken im kleinsten Kreis oder wenn – wie in Italien – gerade einmal ein kurzer Totensegen an aufgereihten Särgen gesprochen werden kann.  Schwerer zu verdauen als Todesanzeigen sind oft Vermisstenanzeigen. Das wissen wir vom Krieg. Oder denken wir an Situationen, wenn der Körper eines Menschen für immer verschluckt wird von den Fluten eines Tsunami, oder verlorengeht in den Abgründen eines Berges oder in den Tiefen des Meeres, wenn ein Flugzeug abstürzt.

Mit dem Verlust des Körpers Jesu, mit dieser erschreckenden und ernüchternden Tatsache, fängt Ostern an. Damit beginnt auch unser Osterglaube. Der Ort, das Grab, in dem der Verstorbene bestattet wurde, ist bekannt. Der Termin der Beerdigung, der Abend vor dem Sabbat, ist eindeutig bestimmbar: geographisch und chronologisch ist alles klar. Aber sein Körper, der Leichnam, ist nicht da. Wo soll er sein? Bis heute weiß niemand, wo die Leiche Jesu geblieben ist. Der österliche Befund lautet einfach: ein leeres Grab. Das Grab ist leer. Der Engel des Herrn auf dem weggewälzten Grabstein hat zwar eine Botschaft, aber keine Auskunft darüber, wo der Leichnam Jesu geblieben ist. Er ist kein Kriminalkommissar, der nach der Leiche fahndet. Er ist höchstens Pfadfinder, der die Richtung weist: „Geht nach Galiläa! Er geht euch voraus!“ (vgl. Mk 16,7). Bis heute hat sich daran nichts geändert: Jesu Leiche ist und bleibt verschwunden. Seine Anhänger sagen: Wir haben ihn gesehen und erkannt. Wir konnten mit ihm sprechen. Einer bekam sogar die Gelegenheit, ihn anzufassen. – Und trotzdem: Ostern ist unfassbar, mit Händen nicht zu greifen, mit dem Hirn nicht zu begreifen. Der Auferstandene ist nicht zu fassen. Auch wenn wir das Grabtuch von Turin verehren, auch wenn es in Trier den Heiligen Rock gibt, auf dieser Erde finden wir keinen Ort, wo Jesu Körper berührbar wäre. In der Grabeskirche zu Jerusalem ist sein Leichnam ebenso wenig anzutreffen wie an sonst einer Pilgerstätte der Welt. 

Der Verlust der Leiche Jesu, das leere Grab, hat viel bewirkt für den Osterglauben. Wir Christen sind keine Wallfahrer geworden, die den gekreuzigten Jesus an seinem Grab besuchen, dort Blumen und Lichter aufstellen, um daraus getröstet wieder nach Hause zu gehen. Es gibt kein Jesus-Mausoleum. Die Frauen werden nicht eingeladen, aus dem Gartengrab eine Jesus-Gedenkstätte zu machen. Das wäre bis heute ein Touristenmagnet. Stattdessen werden sie nach Hause geschickt, nach Galiläa, in ihren Alltag zurück. Sie lernen, dass es seit Ostern nicht mehr um den verlorenen irdischen Körper geht. So ist Ostern für mich eine Mutation, ein Sprung in etwas ganz Neues hinein: Corona könnte der Kirche die Gewissensfrage stellen: Mutter Kirche, nimmst Du Ostern ernst? Nimmst Du ernst, dass mit der Auferstehung Jesu Christi die Welt eine ganz neue Ordnung bekommen hat? Und umgekehrt: Könnte es sein, dass Du auch für Deine Mission in der Welt diese neue „Lebensordnung“ wieder ernster nehmen solltest? Was suchen die Menschen bei Dir wirklich, und womit nährst Du sie? Wir tun vieles als Kirche, was andere Anbieter auch machen, und vernachlässigen vielleicht das „Kernprodukt“: Leben über den Tod hinaus, Leben in Fülle.

Der Leichnam Jesu ist weg, aber der Leib Christi ist da! Das ist mehr als das Mirakel einer wiederbelebten Leiche, wie es die Auferweckung des Lazarus zeigt. An Jesu Grab sagt der Engel: Er ist nicht hier – im körperlichen Sinn. Doch in der Kirche hören wir die Stimme des Priesters: „Nehmt, das ist mein Leib!“ Das ist Ostern: Jesus lebt weiter, nicht nur in seinem Wort, in der „Idee“ vom Himmelreich, sondern der Auferstandene schafft sich einen Leib, die Eucharistie, was bei den Emmausjüngern deutlich wird: Diskussionen um das Wort der Schrift allein reichen nicht aus, erst beim Brotbrechen erkennen sie den Herrn. Der Auferstehungsglaube braucht auch den Leib der Kirche, wie wir bei Thomas sehen: Erst im Zwölferkreis findet er zum Glauben.

Der abwesende Leichnam Jesu wird gleichsam ersetzt durch den anwesenden Leib Christi in der Eucharistie. Er ist ganz da, realiter praesens, wirklich anwesend. Doch damit nicht genug: Leib Christi ist mehr als ein Stück Brot, für das persönliche Seelenheil. Leib Christi sind wir selbst. Der hl. Augustinus sagt: „Wenn ihr der Leib Christi und seine Glieder seid, wird das Sakrament, das ihr selber seid, auf den Tisch des Herrn gelegt. Ihr empfangt das Sakrament, das ihr selber seid. Ihr antwortet auf das, was ihr empfangt mit ‚Amen’. und ihr unterzeichnet es, indem ihr darauf antwortet. Du hörst das Wort ‚Der Leib Christi’, und du antwortest: ‚Amen’. Sei also ein Glied Christi, damit dein Amen wahr sei“ (sermo 272). Der Leichnam Jesu ist weg, aber der Leib Christi ist da! Wir könnten auch sagen: Die Eucharistie ist da, die Kirche ist da! Sie ist „Zeichen und Werkzeug“, dass der auferstandene Christus lebt, dass er die Geschichte bewegt und inspiriert, wie es das Zweite Vatikanische Konzil ausdrückt (Lumen gentium, 1).

Das ist mein Wunsch für Ostern 2020: Der eucharistische Leib bleibt den meisten von uns heuer vorenthalten. Nehmen wir dafür den kirchlichen Leib Christi umso ernster: Leib Christi, das sind wir: zwar nicht sichtbar vereint, so doch im Geist verbunden mit dem Auferstandenen und den vielen Gliedern der Kirche als Leib Christi. Die Lawine der Hilfsbereitschaft und die Kreativität der vielen, sich in der Seelsorge gerade jetzt zu engagieren, sind für mich ein Beweis dafür, dass die Kirche lebt – nicht nur als eingetragener Verein oder Körperschaft des öffentlichen Rechts, nicht nur als NGO oder Sozialeinrichtung, sondern als Christi Leib mit unzähligen Gliedern. Jesus lebt! Die Kirche lebt - mit ihr auch ich! Tod, wo sind nun deine Schrecken! Das ist für mich Ostern 2020: die Chance, als Kirche die Mutation vor 2000 Jahren mitzumachen.

Schauen wir noch auf die zweite Botschaft des Mannes an Jesu Grab: „Er geht euch voraus.“ Der Auferstandene ist weiter als wir. Er ist vor uns. Er hat alles, was auf uns noch wartet, schon durchschritten und überschritten. Die Abschlussprüfung des Sterbens hat er mit Bravour bestanden. Ist das nicht tröstlich? Da geht mir einer voraus – einer, der nicht nur etwas ausprobiert, sondern ernst damit macht. Wo immer ich hingehe, wenn ich auch weggehe, der Auferstandene ist immer schon da. 

Wenn ich weggehe aus einer Beziehung, mich löse von einem Menschen, ja sogar von Gott – Jesus ist immer schon da mit seiner eigenen Erfahrung am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Wenn ich um meinen Arbeitsplatz bange oder gar mein Geschäft, meine Existenz auf dem Spiel steht – Jesus ist da, er teilt zwar keine Finanzspritzen aus, aber er schenkt uns seinen Geist des Mutes und der Stärke, auch diese Krise zu meistern. 

Wenn ich herausgerissen werde aus meiner Schaffenskraft und ins Krankenhaus muss – Jesus ist uns schon vorausgegangen: Er hat alle unsere Krankheiten und Leiden in seinem Kreuz auf sich genommen.

Wenn ich an einem Grabstein stehe und nachdenke über die Grenzen des eigenen Lebens, dann wird mir bewusst: Jesus ist mir auch hier voraus: Er ist schon vor mir hinabgestiegen in das Reich des Todes.

Wenn ich selbst einmal ans Sterben denken muss – auch das wird kommen und wir tun das notgedrungen in diesen Tagen - dann finde ich hoffentlich darin Trost, dass Jesus schon weiter ist als ich: Er ist durch den Tod gegangen und lebt ganz neu. Jesu Leiche ist mutiert in den lebendigen Leib Christi – sakramental und kirchlich. Der Körper interessiert nicht mehr; Christi Leib sprengt alle Grenzen, er wartet auf mich mit dem Geschenk des ewigen Lebens.

Wo immer es uns hin verschlägt, Jesus ist uns immer voraus. Der Auferstandene ist schon da und wartet auf uns. Jetzt wartet er auf uns in Galiläa, dort wo wir leben, lieben und leiden. Ein Gedicht von Karl Gerok (1815-1890) bringt es auf den Punkt:

Komm mit auf Galiläas Fluren,

Da zeig’ ich dir ein Paradies,

Da folgen wir den heil’gen Spuren,

Die Gottes Sohn auf Erden ließ;

Da lass den Herrn uns froh begrüßen

Und küssen seines Kleides Saum

Und selig ruhn zu seinen Füßen;

Komm, Seele, mit, es ist noch Raum!

14.04.2020 - Bistum Augsburg