Predigt von Bischof Bertram Meier an Mariä Himmelfahrt

„Wo es um Leben und Tod geht, gibt es keinen Kompromiss!“

„Wo es um Leben und Tod geht, gibt es keinen Kompromiss!“
Mariä Himmelfahrt: Marias Geburtstag für den Himmel
Predigt des Bischofs Dr. Bertram Meier am 15. August 2021 in Maria Vesperbild

Wir sind heute zu einer Geburtstagsfeier eingeladen. Denn was ist das Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel anderes als ihr Geburtstag für das Ewige Leben? Wer einer Geburtstagseinladung folgt, der bringt ein kleines Geschenk mit und verbindet damit eine Gratulation. Es fällt nicht leicht, unsere Wünsche für Maria in Worte zu fassen, denn die Mutter Gottes und Mutter der Kirche hat so viele Facetten, dass wir sie gar nicht in einem Atemzug nennen können. Wer Maria ehren will, braucht eine persönliche Beziehung zu ihr. Daher starte ich mit einigen Fragen: Wie habe ich bisher Maria in meinem Glaubensleben erfahren? Die Maria der Maiandachten? Maria als ökumenischen Zankapfel? Betrachten wir Maria an der Krippe, Maria unterm Kreuz, Maria im Abendmahlssaal! Knüpfe ich mit Maria am Gebetsnetz des Rosenkranzes? Kann ich etwas anfangen mit der Maria der Dogmen? Vor allem aber die Schlüsselfrage: Lasse ich mich von Maria durchs Leben begleiten? Finde ich mit und durch Maria näher zu Jesus?

Jedenfalls fällt es nicht leicht, Maria zu beglückwünschen. Vielleicht haben wir sie fast schon zu großgemacht, so hoch über uns entrückt, dass wir sie kaum erreichen können – die kleine Jüdin Miriam, von der wir zunächst nichts wissen, als dass sie in jungen Jahren, ohne verheiratet zu sein, Mutter wird. Ihr Sohn behauptet, nicht nur eines Menschen Kind, sondern Gottes Sohn zu sein. Womöglich haben wir es leichter, an Maria unsere Glückwünsche zu richten, wenn wir sie - unbeschadet ihrer Würde - von der hohen Säule einmal herunternehmen und mitten unter uns Menschen hineinstellen – als eine von uns. Denn es spricht sich leichter, wenn man dem anderen in die Augen schauen kann.

Bevor ich mich zum Sprecher für uns alle mache, um Maria zu gratulieren, drängt es mich, Wallfahrtsdirektor Msgr. Reichart besonders zu bedenken. Lieber Erwin, seit Anfang 2018 betreust Du mit enormem Fleiß und klaren Standpunkten dieses Heiligtum der Muttergottes, ein geistliches Zentrum mitten in den Stauden. Schon als Junge, wenn ich zu meiner Tante nach Thannhausen in Ferien fuhr, machte ich hier jedes Mal Station. Zusammen mit vielen Kirchen und Kapellen, die Maria geweiht sind, ist Vesperbild ein markanter Punkt in der geistlichen Geographie unseres Bistums. Wir müssen diesen Ort nicht künstlich „aufblasen“, er war und ist von sich aus „stark“. Maria Vesperbild braucht keinen Promotor, sondern einen Spiritus Rector, einen geistlichen Leiter, der die Menschen seelsorglich einfühlsam begleitet, ihnen das Wort kündet, die Sakramente spendet und in Gottes Namen Sünden vergibt. Vergelt’s Gott, Erwin, für den hingebungsvollen Dienst, den Du mit einigen Mitbrüdern, denen ich ebenso herzlich danke, in Treue ausführst. Die Baustelle, die unübersehbar ist, erinnert uns, dass wir gemeinsam die Kirche erneuern - nicht nach selbstgemachten Plänen, sondern auf der Basis dessen, was Jesus Christus als Bauherr und Architekt uns vorgegeben hat. Maria Vesperbilds Bedeutung hängt weniger an besonderen Events, sondern mehr an der Tatsache, dass der Gnadenort seit der Mitte des 17. Jahrhunderts für viele aus nah und fern eine spirituelle Quelle ist. Möge es so bleiben! Es lebe „Marias schwäbische Hauptstadt“!

Nun ist es an der Zeit, Maria hochleben zu lassen. Ein erster Glückwunsch lautet: Maria wir beglückwünschen dich zu deinen offenen Ohren. Wer das Leben Marias ein wenig nachgeht, entdeckt sie als Hörende. Das Tympanon der Würzburger Marienkirche zeigt, wie Maria durch das Ohr Christus empfängt: „sola fide“ und „sola gratia“, d.h. allein durch Glauben, durch Gnade von Gott her, ist sie ganz Ohr für Ihn, und ihr Lebensweg setzt diesen Anfang fort. So gesehen schlägt Maria als Hörende eine ökumenische Brücke zu unseren protestantischen Brüdern und Schwestern. In welcher Konfession auch immer, echtes Christsein ist stets marianisch. D.h. menschlich brachte Maria nichts mit – für Gott die Möglichkeit, aus ihr alles zu machen.
So steht sie vor uns wie eine große Ohrmuschel. Sind wir überhaupt noch fähig zuzuhören? Der Hörende erwartet mehr als Informationsaustausch; er versucht, sich in den anderen hineinzuhören: Was schwingt mit in seiner Stimme? Sagt er etwas, indem er schweigt? Einem Menschen lauschen, kann eine Neuentdeckung sein. Heute haben viele das Lauschen verlernt. Als Priester und Bischof wünsche ich mir selbst, immer mehr ein Hörender zu werden. Vielleicht ist die Krise der Beichte nicht zuletzt eine Krise der Priester: Wir sollen zuerst einmal hören und lauschen. Dann erst gilt es, selbst das Wort zu ergreifen, zu ermahnen und Zuspruch zu geben. Dies gilt auch für die Kirche als Ganze: Vielleicht reden wir deshalb so oft an den Menschen vorbei, weil wir antworten, wo wir nicht gefragt wurden, und Fragen stellen, die die Menschen in ihren Freuden und Nöten nicht interessieren. Oder als Ehepartner und Freund: Wie viele scheitern in ihrer Beziehung daran, dass sie einander nicht mehr zuhören können. Gespräche werden im Keim erstickt; man vereinbart viele Treffen, und trifft sich eigentlich nie. Man pflegt den täglichen Umgang und umgeht einander in entscheidenden Fragen.

Der Blick auf Maria belehrt uns eines Besseren: Sie ruft uns in die Stille des Wartens und Lauschens, bis Gott das Wort hat; uns als Kirche mahnt sie zur Geduld, unsere Sendung gerade in Situationen zu erfüllen, die undankbar, hoffnungslos oder konfliktgeladen sind. Im Film „Ein Mann seines Wortes“ zeichnet der Regisseur Wim Wenders ein Porträt von Papst Franziskus. In einer der ersten Szenen sagt der Papst: „Die Kirche ist oft taub. Sie hört weder auf Gott noch auf die Menschen. Wir brauchen Apostel des Ohres.“ Maria hat keine Weihe empfangen, dennoch war und ist sie eine „Apostolin des Ohres“. Sie hat gut hingehört – auf den Engel Gabriel und auf der Hochzeit zu Kana, auf den Anspruch Gottes im Blick auf die Nöte der Menschen. Maria, wir beglückwünschen Dich zu Deinen offenen Ohren.

Aus dem Hören erwächst die Antwort: Maria, wir beglückwünschen Dich zu Deinem beherzten Ja. Wir müssen uns einmal in die Lage der jungen Frau hineinversetzen. Erschreckt und verwirrt stellt sie fest, dass sich in ihrem Körper etwas tut. Bekomme ich ein Kind? Mag sie beklommen gefragt haben. Oder stimmt etwas mit meiner Gesundheit nicht? – Welche Not hat sie wohl ausgestanden? Wie es bei uns Menschen so ist, musste sie über kurz oder lang zum Mittelpunkt des Dorftratsches werden. Keine leichte Situation für ein Mädchen, sich selbst und noch mehr den anderen die Schwangerschaft plausibel zu machen. Die Antwort Gottes klingt überraschend. Sie bietet kein einsichtiges Rezept, wie der Mensch es sich wünscht; und noch etwas ist zu bedenken: Damals hätte es ohnehin keine Rezepte gegeben, mit deren Hilfe man unerwünschte Kinder entweder im Vorfeld ganz verhindern oder vor der Geburt noch hätte loswerden können. Maria bekommt nur die Zusicherung des Geistes. Das ist alles: „Heiliger Geist wird über Dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.“ Ein Kind vom Heiligen Geist. Hand aufs Herz: Wer glaubt heute noch daran? Können wir das „Geheimnis des Glaubens“ annehmen oder wollen wir es rationalistisch auflösen? Lassen wir das Geheimnis zu!

Auf Gabriels unglaubliche Botschaft hat Maria beherzt Ja gesagt: Ich bin die Magd des Herrn. Eine Magd ist ihrem Herrn preisgegeben. Wenn Mann und Frau heiraten, dann schenken sie sich in Liebe: in Gesundheit und Krankheit, in guten und bösen Tagen, in Hoch-Zeiten und Krisen. Ein Leben lang sind sie einander preisgegeben und einander verbunden. Halbe Hingabe gibt es nicht: entweder ganz oder gar nicht. Dieses Versprechen sollte sich nicht irgendwann als unüberlegter Versprecher entpuppen.

Maria, wir bewundern Dein Ja zum Leben und nehmen Dich als Vorbild, um als Kirche Ja zu sagen - nicht zu den Maßstäben der Welt, sondern zur Messlatte, die Gottes Wort vorgibt. Wo es um Leben und Tod geht, gibt es keinen Kompromiss. Wir müssen vermeiden, dass uns für das Ende des menschlichen Lebens das passiert, was in der Debatte um den Anfang geschah: Wie der umstrittene Beratungsschein einst fast zur Zerreißprobe für die katholische Kirche in Deutschland geworden wäre, so bahnt sich jetzt eine ähnliche Debatte an um den assistierten Suizid. Gesetzentwürfe dafür liegen schon in den Schubladen. Hier darf es für katholische Christen keine faulen Kompromisse geben: Wir schützen und verteidigen das Leben von der Zeugung bis zum natürlichen Tod, ohne Wenn und Aber. Wenn daran gedacht wird, den assistierten Suizid als Dienstleistung in caritativen Einrichtungen nach erfolgter Pflichtberatung anzubieten, dann erliegt die Kirche einem Selbstmissverständnis. Ihre Mission lautet: Als Volk des Lebens sind wir das Volk für das Leben! (Papst Johannes Paul II.) Es ist gut, dass wir die Bewahrung der Schöpfung ganz oben ansetzen, aber bitte nicht auf Kosten des Menschen, der Krone der Schöpfung! Frösche tragen wir über die Straße, doch Kleine und Schwache wie Embryonen und Senioren bleiben auf der Strecke. Wählen wir das Leben! Kämpfen wir für das Leben! Machen wir klare Ansage! Christen müssen identifizierbar sein.

Noch einer kommt hinzu, der meist im Hintergrund bleibt und von der Kirche den Titel „Arbeiter“ bekommen hat: Josef, der Verlobte, der Maria nicht bloßstellen und sich deshalb im Stillen von ihr trennen wollte. Maria, wir beglückwünschen Dich zu Josef, der Deinen Sohn, den Gottessohn, erzog. Es ist schade, dass Josef meist nur als alter Mann dargestellt wird. Ich kann ihn mir auch als jungen Menschen vorstellen, mitten im Beruf als Zimmermann, die Gründung einer Familie im Blick. In einem modernen Lied über Josef heißt es: „Du wolltest weiter nichts, o nein, als mit Maria glücklich sein.“ Was wurde da dem Josef abverlangt, als er die Vaterschaft an den Heiligen Geist abtreten musste! Selbst abnehmen, damit ein anderer zunehmen darf: Das bringt Josefs Biographie auf den Punkt. Von ihm überliefern uns die Evangelien kein einziges Wort. Seine Spuren verlaufen schließlich im Sand. Ich stelle mir vor: Wenn Josef sein Evangelium geschrieben hätte, ein Evangelium nach Josef, dann hätte es wohl das eine große Thema der Treue: bei aller Nähe auch Trennung und Distanz zulassen. Ohne Josef keine Gottesmutter, ohne Gottesmutter keinen menschlichen Erlöser. Diesen Gedanken zeichnet Papst Franziskus nach, der seinen Brief zum Josefsjahr (2020) mit „Patris corde“ überschrieben hat: Mit dem Herzen eines Vaters.   

Die Gestalt des Josef rückt uns näher als wir denken: etwa, wenn Eltern ihren Einfluss auf Kinder schwinden sehen; wenn andere Menschen ins Leben eines Freundes treten und wir selbst uns zurücknehmen müssen; nicht zuletzt dort, wo ein Jugendlicher zu seinen Eltern oder Freunden sagt: „Ich entscheide anders, als Ihr es von mir erwartet. Ich gehe ins Kloster, ich werde Priester.“ Dann ist auch von uns die Haltung des Josef gefordert: annehmen und doch weiter begleiten, in Gedanken und Gebeten. Ich habe diese Haltung sehr schön in einem Gedicht ausgedrückt gefunden:

„Wieviel er von dem Ganzen je verstand, wer weiß.
Was er gesprochen, schien den Schreibern nicht der Rede wert.
Zur Not weiß man grad eben seinen Namen: Josef.
Doch was er tat, das Wesentliche,
hat man uns freilich aufgeschrieben, weil’s dazugehört,
weil auch dem scheinbar Unbedeutenden
um Jesu willen und für diesmal
höhere Bedeutung zukam.
Was er tat? Das Nötige.
Auch wenn sie nicht von ihm empfangen hatte
die Mutter – er verstieß sie nicht.
Auch wenn er nicht sein Vater war,
Er zog es dennoch auf – das Kind.
Wieviel er von dem Ganzen je verstand, wer weiß.
Dass er und sie ihn brauchten, das verstand er wohl
und tat das Seine.“

Wir haben versucht, unsere Geburtstagswünsche für Maria in passende Worte zu kleiden: Wir beglückwünschen Dich zu deinen offenen Ohren, zu Deinem beherzten Ja und zu Deinem Verlobten Josef.
Einen hätten wir jetzt fast vergessen: Wir beglückwünschen Dich zu Deinem Sohn Jesus. Auch wenn wir den Geburtstag Marias für den Himmel feiern, bleibt doch Er der eigentliche Gastgeber: Er sorgt bei der Feier für die „Himmelsspeise“, indem er sich selber in Brot und Wein verschenkt für unsere Pilgerreise. Maria, wir beglückwünschen Dich zu Deinem Sohn, der Mahl mit uns hält und der es erst möglich macht, dass wir Deinen Geburtstag für den Himmel feiern können.
Hoch soll‘n sie leben: Jesus, Josef und Maria in Vesperbild, ihrer „schwäbischen Hauptstadt“!