Predigt bei der Verabschiedung von Helga Kramer-Niederhauser von Bischof Bertram Meier

Die Lotsin geht von Bord.
EFL-Beratung ist Dienst am Leben, wenn manches gestorben ist.

„Dropping the pilot.“ So lautet der englische Titel einer Karikatur, die den Rücktritt Otto von Bismarcks 1890 beschreibt. Im Deutschen wird dieser Titel – nicht ganz korrekt – so übersetzt: Der Lotse geht von Bord. Im Blick auf heute könnten wir sagen: Die Lotsin geht von Bord. 25 Jahre, ein Vierteljahrhundert lang hat Frau Helga Kramer-Niederhauser als Stellenleiterin, die letzten 8 Jahre als Diözesanfachreferentin die EFL im Bistum Augsburg durch manche Woge und Welle sicher gelotst. So geht nun die Lotsin von Bord. Und alle, die hier sind, bringen ihre Verbundenheit mit ihrer geschätzten Kollegin auf diözesaner, aber auch regionaler und nationaler Ebene zum Ausdruck. Eigentlich hätten noch viel mehr Gäste kommen sollen, aber so sitzen wir beide, liebe Frau Kramer-Niederhauser, einmal mehr in einem Boot: Wie meine Bischofsweihe vor einem halben Jahr, so fällt auch ihre Dankfeier heute viel kleiner aus als geplant und erhofft. Doch das macht nichts: Umso herzlicher sage ich Ihnen zusammen mit beiden Vorgängern in der Leitung des Seelsorgeamtes Herrn Prälat Dr. Dietmar Bernt und Herrn Domkapitular Dr. Michael Kreuzer ein dickes „Vergelt‘s Gott!“ Heute geht wirklich eine Lotsin von Bord. Für diesen Dienst am Menschen zugunsten des Bistums haben sie treuen Kurs gehalten. 

Damit wir nicht nur um uns selber kreisen, lade ich Sie ein zu einem geistlichen Ausflug in die Gegend von Nain. Nain heißt auf Deutsch „die Liebliche“. Doch die Stimmung ist alles andere als lieblich. In der lieblich verträumten Stadt hat der Tod ein Opfer gefunden. Eine lange Menschenschlange von Trauernden verlässt die Stadt. Der Trauerzug zeigt, dass auch in den Mauern dieser Stadt der Tod zu Hause ist. Der Tod wohnt überall, wo Leben ist. Denn ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Auch das Sterben ist ein Teil des Lebens. 

Die Juden empfanden vor einem Toten tiefe Ehrfurcht. Der menschliche Körper war und ist für sie ein Werk Gottes, als sein Ebenbild geschaffen. Zur Zeit Jesu wurde der Leichnam gesalbt und in ein Leintuch gehüllt. Über das Antlitz des Toten legte man ein „Schweißtuch“. Einen Sarg gab es selten. Meist wurde der Tote auf einer offenen Bahre zu Grabe getragen. Ob der Schmerz groß war oder sich in Grenzen hielt, es wurde laut geklagt. Das gehörte zum Ritus. Sogenannte „Klageweiber“ konnten angemietet und bezahlte Flötenspieler bestellt werden. Was in Nain geschieht, ist also nichts Außergewöhnliches: ein Begräbnis mit viel Volk, wohl auch deshalb, weil der Verstorbene jung war, noch dazu der einzige Sohn seiner Mutter, die nun ganz allein ist als Witwe. Der Tod des einzigen Sohnes muss für die Frau ein schwerer Schlag gewesen sein. Hier hat sich das Sprichwort erfüllt: Ein Partner geht von der Seite, ein Kind geht vom Herzen. Als Witwe damals ohnehin schutzlos und schwach, ohne männliche Stütze, ist sie auch sozial arm dran. Die Leute im Trauerzug konnten die Frau vielleicht trösten, helfen konnten sie ihr nicht. Die Größe des Elends spiegelt die Länge des Trauerzuges: „Viele Menschen aus der Stadt begleiteten sie.“ 

Der Leichenzug ist das eine; das andere ist der Weg Jesu: „Jesus kam in eine Stadt namens Nain. Seine Jünger und eine große Menschenmenge folgten ihm.“ Ich kann mir das gut vorstellen: Zwei Prozessionen begegnen sich. Hier der Zug des Todes, dort der Zug des Lebens. Der Tote, dessen Namen wir nicht kennen, wird aus der Stadt herausgetragen. Das Leben, das Jesus von Nazareth heißt, geht in die Stadt hinein. Was geschieht in diesem Augenblick, wenn beide Züge aufeinandertreffen? Sie weichen einander nicht aus. Tod und Leben stellen sich. Der Zug des Lebens tritt nicht pietätvoll einige Schritte zurück, um den Zug des Todes passieren zu lassen. Der Zug des Lebens lässt sich auch nicht mitreißen in den Sog des Todes. Er schließt sich den Trauernden nicht an. Im Gegenteil: Der Zug des Lebens bringt den Zug des Todes zum Stehen. Genau an dieser Stelle halten wir inne: Tod und Leben begegnen sich. Die Bahre des toten jungen Mannes wird zur Wiege des Lebens. Wie ist das zu verstehen?

Schauen wir zunächst auf das dunkle Schicksal einer Witwe in der damaligen Zeit. Es bedeutete, völlig mittellos zu sein, abhängig zu sein vom Wohlwollen und von der Barmherzigkeit anderer. Soll man es der Frau verdenken, dass sie sich an den Sohn klammert wie als Ersatz für ihren verstorbenen Partner? Mag sein, dass er ihr Trost und Stütze ist in den Stunden der Traurigkeit. Mag sein, dass sie darauf zählt, dass er sie schützt und stützt, wenn sie selbst alt ist und nicht mehr kann. Ich habe doch ein Recht darauf, ich habe mir doch sonst nichts gegönnt im Leben. Das alles ist verständlich, menschlich wenigstens.

Doch kann es nicht auch sein, dass ihre Erwartungen, ihr ganzer Umgang, alle Fürsorge und Nähe, die sie in ihren Sohn investiert, dafür mitverantwortlich sind, dass der junge Mann am Ende tot ist, weil er nie zum eigenen Leben kam, weder Freiheit verspürt hat, sein Leben selbst zu gestalten, noch das Zutrauen, den eigenen Weg sich bahnen zu dürfen? 

Der Sohn, das ewige Kind wird zum Garanten der Zukunft. Das könnte ihn ums Leben gebracht haben. Der Sohn, die Tochter, nach Jahren gerechnet längst erwachsen, aber eigentlich nie entscheidungsfähig geworden: Kommt uns das nicht bekannt vor – nicht nur in unseren Familien, sondern auch in der Kirche? Jedenfalls liegt es nahe, im jungen Mann von Nain und seinem Verhältnis zur Mutter Ähnlichkeiten zum eigenen Leben zu entdecken. 

Was macht Jesus? Er schlägt einen klaren, sogar barschen Ton an: Fast taktlos wirkt es, wenn er zur Witwe, die vor wenigen Stunden erst ihren einzigen Sohn verloren hat, sagt: „Frau, weine nicht!“ Und ebenso entschlossen spricht er den Toten an: „Junger Mann“, sagt Jesus, nicht Kindlein oder Sohn oder Mädchen, sondern ganz energisch: „Junger Mann, steh auf!“ Das heißt: „Merke, wie viel an Können, an Stärke, an eigenem Herz, Verstand und Willen in dir selbst liegt. Du bist jetzt alt genug, um dein Leben in die Hand zu nehmen. Du sollst dich nicht mehr durchs Leben tragen lassen wie auf einer Totenbahre, die dir vielleicht bequem vorkam als Bett der Verwöhnung, die dich aber krank gemacht hat. Du kannst auf zwei Beinen stehen. Wach auf, steh auf und geh!“

Wohin soll der junge Mann nun gehen? Soll er sich dem Zug des Lebens anschließen, beruft ihn Jesus gar in seine engere Nachfolge? Nein. Sicher hätte Jesus junge Kräfte in seiner Gruppe gut gebrauchen können. Doch er tut es nicht. Er gibt den Sohn seiner Mutter zurück. Ist das nicht ein schönes Bild für unser Leben? Jesus will nicht die Trennung, die Spaltung, das Sektiererische. Der junge Mann bleibt der Mutter treu, er bleibt in der Gemeinschaft mit ihr. Doch die Bindung an sie schnürt dem jungen Mann nicht mehr den Lebensatem ab; er erstickt nicht mehr an der Wucht der Witwe, am Über-Ich der Mutter, sondern darf selbst aufatmen und durchatmen. Er ist nicht mehr das Mamakind, das alles fragen muss, sondern der erwachsene Sohn, der seine eigenen Akzente setzen darf und dennoch seine alleinstehende Mutter trägt und stützt.

So betrachtet, ist das Wunder von Nain ein Bild für Ihr Wirken, liebe Frau Kramer-Niederhauser und alle, die sich in der EFL engagieren. Sie dienen dem Leben. Sie durchbrechen die Prozession des Todes, ja die Prozesse des Sterbens und setzen auf den Prozess neuen Lebens. In den unzähligen Beratungsstunden legen Sie den Klienten ans Herz: Steh auf! Steh auf von der Bahre Deines Schmollwinkels! Steh auf aus dem Grab Deines Beleidigtseins! Steh auf aus dem Grab Deiner Wortlosigkeit und Enttäuschung! Lass Dir neu die Kraft der Versöhnung schenken, die auf Vergebung baut! Lass Dich aufrichten und in Treue zu Deinem Wort stehen! Und wenn das nicht mehr möglich ist, wenn Deine Beziehung gestorben ist und tot, dann bleib nicht in der Unkultur des Todes, sondern steh auf zu neuem Leben, das auf Dich wartet – aber nur dann, wenn Du das Alte ordentlich mit Stil begraben hast! Danke für Ihren Dienst am Leben! Mir kommen da immer wieder die drei Worte von Franziskus in den Sinn – Worte, die Wunder des Lebens wirken: Bitte, Danke und Verzeih!

Frau Kramer-Niederhauser, gestatten Sie mir noch ein ganz persönliches Wort. Eine Redewendung, die Sie gern gebrauchten, wenn ein Problem nicht gleich zu lösen war (ich denke an die Strukturumstellung von HonorarberaterInnen zu Festangestellten), lautete: „Herr Dr. Meier, das müssen wir uns noch einmal anschauen.“ Ja, vieles haben wir uns immer wieder neu angeschaut, bis es reif war zur Entscheidung. Danke, dass Sie mir gezeigt haben, was Geduld bedeutet. Und wenn Sie, Frau Kramer-Niederhauser, dann noch ihre Charmeoffensive starteten, dann konnte auch ich mich als Prälat dem nicht entziehen und habe noch einmal reflektiert. Vergelt’s Gott für die Schule der Kommunikation, in die Sie mich mitgenommen haben – ein Zeichen geschwisterlicher Kirche! 

Kehren wir noch einmal zum Wunder von Nain zurück. Zur tiefsten Ebene der Deutung stoßen wir vor, wenn wir uns von den Kirchenvätern inspirieren lassen. Besonders der hl. Augustinus sieht in der Witwe die Mutter Kirche, die um ihre Söhne und Töchter trauert, die sie verlassen haben. Mit der Witwe von Nain hofft sie, dass Jesus Christus deren Weg kreuzt, den toten Sohn, die tote Tochter auferweckt und ihn/sie der Mutter Kirche zurückgibt. Hier kommen autobiographische Züge ins Spiel: Auch Monika, die Mutter von Augustinus, war Witwe, und ihr Sohn hatte sich in jungen Jahren weit von Gott entfernt. Monika tat ein Zweifaches: Sie weinte und betete. In den Confessiones schreibt ihr Sohn Augustinus: „Sie hatte mich beweint wie einen Toten, aber einen Sohn zum Auferwecken, und mich auf der Bahre ihres Sinnens und Denkens dir entgegengetragen, auf dass du zum Sohn der Witwe sprächest: ‚Jüngling, ich sage dir, steh auf’ (Lk 7,14) und er zurück ins Leben käme und zu reden anfinge und du ihn seiner Mutter wiedergäbest“ (Confessiones 6,1).

Schon früher hatte Monika einen Bischof aufgesucht, um sich wegen Augustinus beraten zu lassen. Der Bischof drängte nicht, sondern mahnte zur Geduld. Monika sollte warten, bis für Augustinus die Zeit reif geworden sei. Dann fügte er hinzu: „Nur bete für ihn zum Herrn. So wahr du lebst, es ist unmöglich, dass ein Sohn solcher Tränen verlorengeht“ (Confessiones 3,12). Wir wissen, dass der Bischof Recht behalten sollte. Habe auch ich vielleicht einen Menschen, für den ich gerade nichts anderes tun kann als weinen und beten? Wenn ja, dann wollen wir ihn bei diesem Gottesdienst besonders bedenken. 

Vor allem beten wir heute für Sie, liebe Frau Kramer-Niederhauser – die Lotsin, die das Boot verlässt. Wir beten um eine stabile und gute Gesundheit, und wir schließen auch Ihren Mann sowie Ihre ganze Familie mit ein. Zugleich sind wir dankbar, dass die EFL im Bistum Augsburg nicht ohne Leitung bleibt: Eine neue, vergleichsweise junge Lotsin geht an Bord. Es ist Frau Maria Muther, die sowohl durch ihr akademisches Studium der Theologie und Psychologie als auch durch ihre spirituelle Kompetenz für diese anspruchsvolle Aufgabe das nötige Rüstzeug mitbringt. Gern bringe ich die Worte zu Gehör, die Frau Muther als erste Reaktion auf ihre Berufung gesagt hat: „Ich komme nicht als ‚fertige‘ Fachbereichsleiterin, sondern als ein Mensch im Werden.“ Das ist unser aller Wunsch: immer mehr werden, was wir sind, seitdem Gott uns ins Leben gerufen hat – als Menschen, als sein Bild und Gleichnis. Liebe Frau Muther, seien Sie in Ihrem Dienst gesegnet, damit Sie immer mehr zum Segen werden für viele!

27.11.2020 - Bistum Augsburg , Gottesdienst