Ein Duett für die Melodie des Heils

Predigt von Bischof Bertram Meier am Sonntag, 9. Mai 2021,
in Augsburg Heilig Kreuz zur Woche des Wunderbarlichen Guts

Echte Kunst, in der die Wahrheit zum Leuchten kommt, überdauert die Zeiten. Warum? Weil die Wahrheit bleibt. Darum werden wir heute noch berührt von den Kunstwerken früherer Epochen, auch wenn deren Stil schon längst der Vergangenheit angehört. Denn die Wahrheit, die in den Werken Gestalt angenommen haben, bleibt. Romano Guardini schloss seine letzte Vorlesung mit dem Satz: „Die Mode geht und kommt, aber die Wahrheit bleibt.“

Die beiden Werke, um die unsere Gedanken heute kreisen, sind nicht modern. Sie gehören Epochen an, die längst vergangen sind. Doch die Wahrheit, die sie ausdrücken, überdauert die Zeiten, sie bleibt und dient der Ewigkeit.

Aber ich möchte meine Betrachtung nicht beginnen, ohne vorher denen gedankt zu haben, die 86 Jahre lang diesen geistlichen Ort zum Heiligen Kreuz belebt und geprägt haben. Es sind die Dominikaner, denen das Heiligtum von 1934 bis 2020 anvertraut war. Durch die dominikanische Seelsorge, die sich besonders vom Wort inspiriert weiß, wurde dieses Gotteshaus zu einer wichtigen Beichtkirche – nicht nur für Menschen aus der Stadt, sondern auch für Leute aus dem Umland und nicht zuletzt für zahlreiche Priester. Auch weiß sich Heilig Kreuz einer langen und qualitativ hochstehenden Musiktradition verpflichtet, die wir auch heute wieder genießen dürfen. Die Augsburger Brüder arbeiten – soweit sie können – noch immer in der Seelsorge und in der sozial-caritativen Beratung. Neue Akzente konnten sie setzen durch die Seelsorge an der ersten Autobahnkirche im deutschsprachigen Raum an der A8 bei Adelsried; und viele von uns sind noch geschockt vom plötzlichen Unfalltod des Autobahnseelsorgers und Priors P. Wolfram Hoyer OP, der uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Vergelt’s Gott, liebe Dominikaner, für Ihren Einsatz und die Präsenz, mit der Sie diesen heiligen Ort bis zum heutigen Tag bereichern.

„Die Mode geht und kommt, aber die Wahrheit bleibt.“ Diesen Satz Romano Guardinis löst zunächst das Wunderbarliche Gut ein, aus dem sich vor mehr als 800 Jahren eine eucharistische Wallfahrtstradition entwickelt hat. Wer sich in Augsburg dem Wunderbarlichen Gut angelobte, hatte einen mächtigen Helfer in größter Not. Der Volkskundler und ehemalige Kreisheimatpfleger Prof. Walter Pötzl hat die Gebetserhörungen im Buch „Schreckliche Unfälle und furchtbare Krankheiten“ akribisch zusammengetragen, indem er Mirakelbücher auswertete, Votivtafeln betrachtete und Andachtsbilder analysierte. Da ist etwa der fünfjährige Johann Lauter aus Großaitingen, der in der Jakobervorstadt unter einen Wagen geriet und trotzdem unversehrt blieb. Im Sommer 1648 – just im Jahr, als der Dreißigjährige Krieg zu Ende ging – blies ein Flugblatt das spektakuläre Wunder groß heraus. Derselbe Drucker Andreas Aperger hatte schon 1622 ein Blatt aufgelegt, worin der Notar bei Heilig Kreuz Johann B. Mayer über 20 „Miracula und Wunderwerk“ in Versform brachte. Aus dem Schmuttertal und den Stauden bis Zusmarshausen und Dinkelscherben riefen fromme Leute über Jahrhunderte hinweg die wundertätige Hostie an, das Wunderbarliche Gut von Heilig Kreuz.

Dass Sie heute gekommen sind, zeigt: „Die Mode geht und kommt, aber die Wahrheit bleibt.“ Wenngleich mehr als 800 Jahre ins Land gezogen sind, seit sich 1199 das Hostienwunder hier ereignet hat, gilt dennoch: In Heilig Kreuz verehren wir keine tote Reliquie, wir knien vor dem lebendigen Christus, den wir in der Eucharistie feiern, im heiligen Messopfer erheben und in der konsekrierten Hostie anbeten. Dabei geht es weniger um einen heiligen Gegenstand, um ein sakrales Objekt, sondern mehr um eine Person, um den Allerheiligsten, den gekreuzigten und auferstandenen Herrn: „Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und preisen dich, denn durch ein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.“ 

Ja, der Herr hat die Welt erlöst – ein für alle Mal. Das gilt auch für die Zeit der Pandemie. Obwohl wir derzeit noch immer in Corona mehr die Dornenkrone des leidenden Jesus sehen müssen, dürfen wir darauf vertrauen, dass Corona einmal von der Krone überstrahlt wird, die uns der Herr aufsetzt, wenn er uns in den Himmel aufnimmt: die Krone des ewigen Lebens. Sein heiliges Kreuz hat auch das Virus Corona besiegt, wenngleich wir derzeit noch viel damit beschäftigt sind, die Pandemie einzudämmen. Das Virus hat unser Leben eingeschnürt, unsere Freiheit gefesselt und manche Beziehung weniger geglättet als verknotet. 

So trifft es sich gut, dass Heilig Kreuz vorübergehend ein zweites Kunstwerk, das viele Menschen in Not anzieht, beherbergen darf: Maria, die Knotenlöserin. Der Kooperationsbereitschaft des Bürgervereins, der für die Kirche St. Peter am Perlach Sorge trägt, sowie Prälat Günter Grimme und Dompfarrer Armin Zürn sei gedankt, dass die Gläubigen die Knotenlöserin besuchen können – zwar nicht das Original, aber eine Kopie des Bildes, das in St. Peter hängt. Es geht ja weniger um Kunst, sondern um den Trost, der von der Knotenlöserin ausgeht. Die Botschaft des Bildes ist wesentlich. Sie kann uns jetzt in Heilig Kreuz zu Herzen gehen.

Wir schreiben das Jahr 1700, als Johann Melchior Georg Schmidtner (1625-1705) die Knotenlöserin malte. Das Kunstwerk entstand also am Abend seines Lebens, ein reifes Werk, in das sich viel Erfahrung mischt. Dabei werden Schmidtner mehr als 200 Werke zugeschrieben, doch das einzige, das die Geschichte nachhaltig beeinflusst hat, ist Maria Knotenlöserin. Sie ahnen es schon! Johann Melchior Georg Schmidtner hat wohl das Bild gemalt, aber ihm nicht den Namen gegeben. Maria Knotenlöserin ist ein Sonderfall unter den Namen und Titeln, mit denen die Muttergottes angerufen wird. Denn wir suchen die Knotenlöserin vergeblich in der Lauretanischen Litanei, und sie ist auch keinem erschienen, wie wir es von anderswo kennen z.B. in Lourdes, Guadalupe oder Fatima. Maria Knotenlöserin ist – vom Motiv her – eine Variante der Unbefleckten Empfängnis, was aus dem weißen Band und das Arrangement des Bildes hervorgeht.

Das Kunstwerk wurde gleichsam „nach Maß“ angefertigt. Es handelt sich um eine Auftragsarbeit, entstanden in einer ganz besonderen Situation. In St. Peter am Perlach wirkte ein Priester namens Hieronymus Ambrosius von Langenmantel. Ganz diskret und ohne Angabe eines Grundes ging der Seelsorger zum Maler Schmidtner und vertraute ihm den Auftrag an – für ein Muttergottesbild, wobei er ihm einige Details genau vorschrieb. Der Pfarrer war mit der Ausführung sehr zufrieden und zog mit seinem Gemälde von dannen. Danach legte sich über die Geschichte ein geheimnisvoller Schleier, der dreihundert Jahre brauchte, bis er gelüftet wurde. Heute ist der Schleider gefallen, und wir wissen, was es mit Maria Knotenlöserin im tiefsten auf sich hat. Wir wissen auch, warum der Priester die Sache so diskret behandelt hat. Er wollte keine Privataffäre offenlegen.

Pfarrer Langenmantel hatte nämlich den Auftrag erteilt, weil er mit der Knotenlöserin einem seiner Verwandten, Wolfgang von Langenmantel, ein persönliches Geschenk machen wollte. Dieser hatte dem Seelsorger anvertraut, dass seine Ehe in Krise sei und dass er sich von seiner Frau Sophie scheiden lassen wolle. Der Knoten ist also eine zerrüttete Ehe. Und der Priester wollte keine langen Ermahnungen und wortreichen Vorträge halten, sondern seine Absicht war, das Bild predigen, ermahnen, ermutigen zu lassen. Maria Knotenlöserin sollte also eine Art Ehe-, Familien- und Lebensberatung sein. Wer zur Knotenlöserin aufblickte, sollte die Knoten seines eigenen Lebens anschauen und den Mut aufbringen, die der Muttergottes in die Hand zu geben.

Auch Papst Franziskus gehört zu den großen „Fans“ der Knotenlöserin. Ist es nicht sprechend, wenn er eine Kopie des Bildes in dem Raum aufstellen ließ, in dem er im Gästehaus des Vatikans zur Audienz bittet? Da besucht den Papst auch so mancher, der einen Knoten dabeihat – Politiker, Bischöfe, Ordensleute, Wissenschaftler und Künstler, auch ganz einfache Leute sind dabei. Und bei allen Gesprächen mit dem Papst ist im Hintergrund die Knotenlöserin.  

Auch in unserem Lebensband gibt es manche Knoten: Knotenpunkte wichtiger Entscheidungen, Knoten in unseren Beziehungsnetzen, Verknotungen durch Krankheiten, Krisen und Verkrampfungen. Schauen wir unsere Knoten an und reichen wir sie an Maria Knotenlöserin weiter. Maria, vom Knoten, der Knoten bin ich! 

Das Wunderbarliche Gut und die Knotenlöserin: Heute schauen wir beide an und legen davor unsere Probleme und Knoten ab. Viele Jahrhunderte gibt es die beiden schon: 300 Jahre die Knotenmutter, 800 Jahre das Wunderbarliche Gut. Gerade heuer, wo beide hier – Corona bedingt - vereint sind, wird Heilig Kreuz zu einem geistlich starken Ort, zu einer Quelle, aus der die Gnade strömt: Der Herr hat uns erlöst und Maria, die Knotenlöserin, hilft ihm dabei. Ist das nicht ein schönes Duett für die Melodie des Heils? Womit Romano Guardini sein Lebenswerk an der Uni beschloss, kann Motto sein für die Schule des Lebens: „Die Mode geht und kommt, aber die Wahrheit bleibt.“ Amen.

13.05.2021 - Bistum Augsburg