Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz

Zur aktuellen Diskussion über die Vaterunser-Bitte „Und führe uns nicht in Versuchung“

Um die Vaterunser-Bitte „Und führe uns nicht in Versuchung“ ist in jüngster Zeit eine Diskussion geführt worden, die auch in der öffentlichen Wahrnehmung einen beachtlichen Widerhall gefunden hat. Diskutiert wird über die geeignete Übersetzung und über das richtige Verständnis dieser Bitte. In dieser Debatte wird deutlich, dass das Vaterunser viele Menschen beschäftigt und berührt. Die Bitten des Vaterunsers sind mehr als ein kulturhistorischer Traditionsbestand, sie bewegen und rütteln auf. Es ist ein gutes Zeichen, dass öffentlich über den Glauben und die Frage nach Gott gesprochen wird.

Die Frage der Formulierung

Aktueller Auslöser der Diskussionen war ein Entschluss der französischen Bischöfe, die Formulierung dieser Vaterunser-Bitte zu ändern. Die bisherige Formulierung im Französischen lautete in deutscher Übersetzung in etwa: „Und unterwirf uns nicht der Versuchung“ und unterschied sich damit von der im Deutschen, aber analog auch beispielsweise im Italienischen, Englischen oder Polnischen verwendeten Übersetzung „Und führe uns nicht in Versuchung“. Diese Formulierung ist eng am griechischen Wortlaut des Matthäus- (6,13) und des Lukasevangeliums (11,4) gehalten („καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν“) und stimmt auch mit der lateinischen Formulierung der Vulgata überein. Der neue französische Text hingegen entspricht der bisher schon beispielsweise im Spanischen und im Portugiesischen gebräuchlichen Formulierung im Sinn von „Und lass uns nicht in Versuchung geraten“. Diese Formulierung ist eine freiere Umschreibung des griechischen Textes.
Jesus wird seine Jünger zwar nicht auf Griechisch, sondern auf Aramäisch (oder Hebräisch) das Vaterunser gelehrt haben, aber diese Fassung ist uns nicht erhalten. Man kann den griechischen Text ins Aramäische und Hebräische zurückübersetzen. Aber damit rekonstruiert man nicht den Wortlaut Jesu. Auf Aramäisch und Hebräisch wären beide Varianten möglich; das antike Judentum kennt aber Wendungen in hebräischen Gebeten, die der griechischen Formulierung der Versuchungsbitte genau entsprechen (b Ber 60).
Papst Franziskus hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass die wörtliche Übersetzung für viele Menschen eine Quelle des Missverständnisses sein könne, dass Gott selbst das Böse wolle und dass die freiere Umschreibung, wie sie jetzt auch die französischen Bischöfe gewählt haben, in dieser Hinsicht dem Verstehen etwas entgegenkomme. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob nicht auch die deutsche Übersetzung geändert werden sollte.
Bei näherer Betrachtung ergibt sich jedoch, dass sehr gewichtige Gründe dagegensprechen, gleich ob man nun philologische, exegetische, liturgische oder nicht zuletzt auch ökumenische Gründe stärker gewichtet. Gerade die konfessions- und länderübergreifende Einheitlichkeit des Textes im gesamten deutschen Sprachraum ist dabei nicht das unbedeutendste Argument.
Umso wichtiger ist es aber, den kritischen Hinweis von Papst Franziskus ernst zu nehmen und die breite Debatte, die jetzt entstanden ist, positiv aufzugreifen. Es gilt, die Chance zu nutzen, die Bedeutung der Vaterunser-Bitte im Zusammenhang des christlichen Gottesbildes und des christlichen Verständnisses von der Beziehung zwischen Mensch und Gott vertiefend zu erläutern.

Der Sinn des Bittens

Was tun Christen, wenn sie das Vaterunser beten? In der Tradition der Kirchenväter schreibt Thomas von Aquin: „Wir müssen nicht unsere Bitten vor Gott ausbreiten, um Ihm unsere Bedürfnisse oder Wünsche mitzuteilen, sondern um uns klar zu werden, dass wir in diesen Dingen die göttliche Hilfe anrufen müssen“ (STh. II–II 83,2 ad 1). Es geht im Bittgebet nicht darum, Gott zu etwas zu bringen, was er nicht wollte, sondern darum, das Gethsemane-Gebet Jesu aufzunehmen: „… dein Wille geschehe“ (vgl. Mt 26,42). Es geht auch nicht darum, Gott um etwas zu bitten, wie man einen Mitmenschen um etwas bittet, der nicht weiß, dass und wie er helfen soll. „Euer Vater weiß, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet“ (Mt 6,8).
Gerade deshalb ist das Bittgebet notwendig. Das Vaterunser macht Mut zum Beten und Bitten (vgl. Lk 11,5–13). Es schenkt den Gläubigen die Worte, mit denen sie ihre wichtigsten Anliegen vor Gott bringen können – für sich selbst und für alle, mit denen sie zusammen und für die sie beten. Im gläubigen Bittgebet wollen Menschen nicht ihrem Egoismus folgen. Sie bekennen vielmehr, auf Gott angewiesen zu sein und ihm zu vertrauen. Sie stellen sich seiner Führung anheim. Sie geben Gott die Ehre, indem sie darauf bauen, dass es für sie selbst und für alle Menschen am besten ist, wenn Gott seinen Namen heiligt, sein Reich kommen lässt und seinen Willen erfüllt – und dass er sie in diese Heiligung, dieses Kommen und diese Erfüllung einbezieht.
Beten ist deshalb zuerst Hören auf Gottes Wort. Das Bitten ist ein Schrei aus der Not, eine Suche nach Rat – und eine Antwort auf die Verheißung wirkmächtiger Hilfe. Diesem Bitten gibt Gott selbst Raum. Er bleibt nicht ungerührt, sondern erfüllt die Bitten – nach seinem Heilsratschluss, der für die Menschen ein Geheimnis bleibt. Wie das Loben und Danken, auch das Klagen, so nimmt auch das Bitten das Gespräch auf, das Gott mit den Menschen führt. Das Vaterunser ist eine Schule des Betens: „nicht plappern wie die Heiden“ (Mt 6,7), sondern in der Freiheit der Kinder Gottes durch den Heiligen Geist so zu sprechen, wie Jesus es gelehrt hat.

Die Freiheit des Betens

Mehrfach zitiert Thomas von Aquin nach der Vulgata, der lateinischen Bibelübersetzung, einen Vers aus Jesus Sirach: „Im Anfang schuf Gott den Menschen, und er entließ ihn in die Hand seines Rates“ (Sir 15,14: Deus ab initio constituit hominem et reliquit illum in manu consilii sui); er verbindet dies mit dem Hinweis: „in die Freiheit der Entscheidung“ (z. B. STh. I 83,1 sc.). Frei soll der Mensch sich dafür entscheiden, auf den Ruf Gottes zu antworten, und aus freien Stücken soll er sich der Führung Gottes anvertrauen. Das Vaterunser gibt dieser Freiheit eine Stimme – nach Paulus auch stellvertretend für jene, die nicht beten können (vgl. Röm 8,14–27). Die Freiheit wächst im Gehorsam gegen Gott und im Dienst am Nächsten.
Das Vaterunser ist ein Bittgebet, das nie nur dem Eigennutz, sondern immer auch dem Wohl und dem Heil der anderen dient. Es ist in den Evangelien mit dem Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe einschließlich des Samaritergleichnisses (vgl. Lk 10,25–37) und mit der Seligpreisung der Armen (vgl. Mt 5,3–12), mit der Feindesliebe (vgl. Mt 5,38–48) und mit der Praxis der Gerechtigkeit (vgl. Mt 5,17–20; 6,1–18) untrennbar verknüpft.
In der Gemeinschaft derer, die – in der 1. Person Plural – das Vaterunser sprechen, kommt das ganze Leben zur Sprache. Nach den Du-Bitten, die auf den Namen und das Reich sowie bei Matthäus auch auf den Willen Gottes zielen, stehen Wir-Bitten, die schlechterdings elementare Nöte, Bedürfnisse und Hoffnungen ansprechen: das Brot, das Menschen zum Leben brauchen, die Schuld, die ihnen vergeben werden muss, und die Versuchung, die sie fürchten, weil sie um ihre eigene Schwäche wissen; bei Matthäus zum Schluss die Erlösung vom Bösen.

Die Gefahr der Versuchung

Die Bitte: „Und führe uns nicht in Versuchung“ zieht besondere Aufmerksamkeit auf sich. Sie ist die einzige Vaterunser-Bitte, die negativ formuliert ist; bei Lukas beendet sie das Gebet, bei Matthäus wird sie ins radikal Positive gewendet: „sondern erlöse uns von dem Bösen“.
Nur weil die Menschen frei sind, können sie glauben; weil sie frei sind, können sie aber auch in Versuchung geraten. Diese Spannung kommt im Vaterunser zu Wort. Wer es betet, bekennt: „Ich bin verführbar, bin angefochten und der Versuchung ausgesetzt“; aber wer das Gebet im Glauben spricht, vertraut zugleich auf Gottes erhörende Barmherzigkeit: „Ich darf mich der Führung Gottes anvertrauen: Du wirst mich nicht in Versuchung führen“.
Diese Überzeugung spricht aus dem Jakobusbrief: „Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt. Denn Gott lässt sich nicht zum Bösen versuchen, er führt aber auch selbst niemanden in Versuchung“ (Jak 1,13). Der Jakobusbrief will verhindern, dass Menschen, die sich selbst der Versuchung aussetzen, Gott dafür die Schuld geben. Er bringt den tief in der Bibel wurzelnden Glauben zum Ausdruck, dass Gott keinen Menschen zu Fall bringt; denn Gott erhört die Bitte: „Und führe uns nicht in Versuchung“. Die Bibel kennt starke Geschichten von harten Glaubensproben, die Gott Menschen unterzieht, damit sie sie – mit seiner Hilfe – bestehen, wie bei Abraham (vgl. Gen 22) und Hiob. Aber es gibt auch die vielfach ernste Gefahr, der Prüfung nicht gewachsen zu sein. Gerade deshalb gibt es die Versuchungsbitte. Sie vertraut Gott den Herzenswunsch an, nicht über die eigene Kraft hinaus erprobt zu werden.
Die Versuchung, von der das Vaterunser spricht, ist von tödlichem Ernst: Sie ist die Anfechtung, an Gott irre zu werden, und die Verlockung, dem Bösen zu dienen. Diese Anfechtung und diese Verlockung sind eine ungeheure Macht, der Menschen ausgesetzt werden und der sie sich selbst aussetzen. Es wäre theoretisch vorstellbar, dass Gott in seinem heiligen Zorn die Menschen bis zur bitteren Neige auskosten ließe, was sie selbst verschuldet haben. Aber das Evangelium bringt Gottes Gerechtigkeit als Barmherzigkeit zur Geltung. Der Glaube an dieses Evangelium verdichtet sich im Vaterunser.

Der Grund des Vertrauens

Die Bibel überliefert von Jesus selbst, dass er in Versuchung geführt wurde: Er ging in die Einsamkeit der Wüste; vom Geist Gottes geleitet, hat er sich in Freiheit der Versuchung ausgesetzt und hat ihr widerstanden (vgl. Mk 1,12 f.; vgl. Mt 4,1–11; vgl. Lk 4,1–13; 22,28). Die Versuchung in der Wüste steht für den gesamten Heilsdienst Jesu, der sein Leben geopfert hat, um die Menschen vom Bösen zu erlösen. Weil er selbst versucht worden ist, kann er mit denen mitfühlen, die in Versuchung geraten (vgl. Hebr 2,18; 4,15 f.). Im Gethsemane hat er gebetet, dass der Kelch des Leidens an ihm vorübergehe, aber mehr noch darum, dass Gottes Wille geschehe (vgl. Mk 14,32–42 parr.). Dort hat er seine Jünger gemahnt: „Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet“ (Mt 26,41 parr.). Das Vaterunser ist das Gebet, das sie aus diesem Grund sprechen sollen – einschließlich der sechsten Bitte.
Aus der Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung“ spricht nicht die Angst, vor Gott zu versagen, sondern das Vertrauen, vom allmächtigen Gott getragen und erlöst zu werden. Aus der Bitte spricht auch nicht der Verdacht, Gott könne wollen, dass ein Mensch scheitert, sondern der Glaube an seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Aus der Bitte spricht allerdings auch das Wissen um Grenzerfahrungen, in denen es keine Antwort mehr auf die Gottesfrage zu geben scheint.
Wer mit den überlieferten Worten Jesu das Gebet in diesem Glauben spricht, bringt gerade dadurch zum Ausdruck, nicht an Gott irre zu werden und nicht anderen Menschen die Hölle bereiten zu wollen, sondern den Namen Gottes zu heiligen, das Brot Gottes zu teilen, die empfangene Vergebung weiterzugeben und um die Erlösung der ganzen Schöpfung zu beten. Die Bitte selbst hat nach der Verheißung Jesu die Kraft der Erhörung in sich.
Dass Gott die Menschen vor der Versuchung bewahren möge und sie nicht ihren falschen Entscheidungen ausliefern möge, gehört zum Sinn der Vaterunser-Bitte – die aber so gehalten ist, dass auch die abgründige Erfahrung, Gott prüfe einen Menschen über seine Kraft hinaus, angesprochen wird.
Das Vaterunser beantwortet nicht die Frage der Theodizee: Warum gibt es Leid, Böses und Versuchung? Warum lässt Gott all dies zu? Aber es öffnet den Raum des Betens, in dem Gott angerufen werden kann: „rette mich in deiner Gerechtigkeit“ (Ps 31,2). Die Bitte „Und führe uns nicht in Versuchung“ zielt gerade nicht darauf ab, Gott zu überreden, er möge sich doch dafür entscheiden, den Beter nicht in Versuchung zu führen. Vielmehr vereint die Bitte die Erkenntnis eigener Schwäche, das Vertrauen auf Gottes Führung und die feste Zuversicht, dass Gottes Geleit nicht in den Abgrund führt.

26.01.2018 - Bischöfe