Predigt zur Christmette 2020 von Bischof Bertram Meier

Transeamus! Der Grenzgänger-Gott

Transeamus. In dieses Lied mündet meine Predigt ein. Es ist der Ausruf der Hirten, so wie er in der lateinischen Bibelübersetzung der Vulgata lautet, einem beliebten schlesischen Chorwerk aus dem 18. Jahrhundert entnommen:

Transeamus usque Bethlehem
et videamus hoc verbum quod factum est.

In der Einheitsübersetzung lesen wir:
„Lasst uns nach Betlehem gehen, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr kundgetan hat.“ (Lk 2,15)

Transeamus! Auf, lasst uns gehen! Da war sicher auch Neugier dabei. Aber wenn das alles ist? Es steckt mehr dahinter. Wäre es bloß um eine Sensation gegangen, hätten wir die Hirten von Betlehem längst vergessen. Wäre die Organisation einer Fete Gottes Interesse gewesen, dann war er schlecht beraten mit seinem Event-Manager. Denn nichts war organisiert für eine standesgemäße Geburt des Gottessohns. Doch das ist nicht der Kern der Heiligen Nacht: Auf die Botschaft kommt es an. Die aufbrechenden Hirten sind die ersten Evangelisten von Weihnachten. Sie verlassen ihre angestammten Plätze, die Hirtenfelder, und eilen zur Krippe. Weihnachten zeigt uns, wie Evangelisierung geht. Wo Jesus erscheint, kommen Menschen in Bewegung, sie brechen auf, folgen ihm nach. Entweder ist er es, der ruft, wie bei den ersten Jüngern Simon und Andreas (Mk 1,16-20), oder Menschen stoßen sich selbst in die Rippen und folgen ihm, bis er sich ihnen zuwendet und persönlich anspricht (Joh 1,35-51).

Evangelium setzt nicht nur in Bewegung, Evangelium ist Bewegung auf dem „Neuen Weg“ (Apg 9,2), seit der ersten Weihnachtsnacht bis heute ungebrochen.

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Transeamus! Die Dynamik, die im Anfang liegt, hat ihre Kraft nicht verloren. Denn die Hirten waren eigentlich nicht die ersten, die sich selbst aufforderten und sagten: Auf, lasst uns gehen! Der erste, der zum Aufbruch bläst, ist der dreifaltige Gott höchstpersönlich. Es ist gleichsam der göttliche Thronrat, der mit sich selbst zu Rate geht, ein innergöttliches Gespräch, aus dem der Beschluss erwächst, der die Welt aus allen Angeln hebt: Transeamus! Lasst uns gehen – mitten in die Welt, unter die Menschen, den Menschen in allem gleich, außer der Sünde. Deshalb liegt in diesem Transeamus ein Schwung, der nicht erlahmt und sich nicht totläuft. Denn es ist Gottes „Transitus“, Sein Hinübergehen, Sein Aufbruch, mitten in die Turbulenzen der Welt hinein. Das Imperium Romanum, das römische Weltreich, träumte vom Frieden nach innen und nach außen. Man erwartete einen Friedenskönig. An Weihnachten erfüllt sich dieser Traum. Es ist „Transitus“: Aufbruch Gottes zu uns Menschen. Diese Melodie durchzieht mit vielen Variationen die Seiten der Heiligen Schrift. Gott kommt auf uns Menschen zu. Er bleibt keine kalte Majestät hinter den Sternen, er teilt sich uns mit: Offenbarung ist Gottes Selbstmitteilung. Und so geht die Melodie vom Aufbruch weiter: Abraham lässt seine gesicherte Umgebung zurück, Mose wird zum Anführer und Retter eines ganzen Volkes, das aufbricht, auszieht, hinüberzieht: durchs Schilfmeer und über den Jordan. Transeamus!

Es ist eigentlich nichts Besonderes in der Bibel, aufzubrechen und loszuziehen. Aber in der Weihnachtsnacht ist etwas geschehen, was doch ganz anders ist, einmalig und neu: Gott geht so auf uns Menschen zu, dass er in den Menschen eingeht. Die Kategorien der Trennung zwischen Gott und Mensch geraten ins Wanken, die Grenzen fangen zu fließen an. Ignatius von Loyola spricht von einem liebenden Selbstgespräch, das Vater, Sohn und Heiliger Geist miteinander führen und in dem sie schließlich übereinkommen: „Lasst uns die Erlösung des Menschengeschlechtes verwirklichen!“ - „Kommt, lasst uns zu den Menschen gehen!“ (vgl. Geistliche Übungen, Nr. 107) Transeamus! Gott geht an die Grenze, die gezogen ist zwischen ihm selbst und uns Menschen. In Jesus von

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Nazaret wird Gott zum Fußgänger und zugleich zum Grenzgänger. Er geht bis an die Grenze, er verausgabt sich an die Menschen, ohne sich in die Menschheit zu verlieren. Indem er ganz Mensch wird, bleibt er zugleich ganz Gott: wahrer Gott und wahrer Mensch.

Was heißt: an die Grenzen gehen? Sind Grenzen nicht auch Sicherheitslinien? Im vergangenen Jahr ließ uns Corona Sicherheitslinien ziehen. Abstand mussten wir halten, Distanz einnehmen, um das Virus zu bremsen. Hoffentlich wird daraus kein Dauerzustand. Denn immer auf Abstand gehen, ist nicht menschlich. Zugleich wird uns in dieser Zeit, in der wir unsere Kontakte beschränken müssen, neu bewusst, auf wen wir wirklich zählen können. Ja, vielleicht braucht es manchmal äußere Distanz, um die innere Nähe tiefer zu erspüren – eine Nähe, die das körperlich Greifbare übersteigt. Und weiter gefragt: Brauchen wir Menschen nicht geradezu einen gebührenden Sicherheitsabstand gegenüber Gott? Was ist, wenn Gott sich so naht, dass die Grenzen verwischen zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit? Wird da der Mensch nicht schnell in seiner Freiheit erdrückt, weil neben Gott nichts bestehen kann? Oder die umgekehrte Möglichkeit: Wird Gott, der sich uns Menschen gleichmacht, nicht vom Menschen „eingemeindet“, verschluckt, dass er nur noch Bruder ist und nicht mehr Herr der Geschichte?

Das ist das Großartige, wenn Gott an die Grenze geht: Er kommt in der ihm eigenen Weise, so zurückhaltend, so sanft, so zärtlich, dass wir Menschen es ertragen können. Er fällt nicht mit der Tür ins Haus, er drängt sich nicht auf, er klammert nicht, er überfordert uns nicht – wie wir Menschen es manchmal tun, wenn wir die Intimsphäre nicht achten, Tabus brechen und andere bedrängen, obwohl sie es nicht wollen.

Gott geht an die Grenze, aber er überschreitet sie nicht. Er achtet sie. Gott respektiert unsere Freiheit. Das ist seine Methode; er naht sich so menschlich, wie jeder von uns ins Leben hineinwächst: als Kind. Daher ist es mir ein großes Anliegen, dass gerade die Kinder auch heuer Weihnachten feiern können. Vieles

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wird auf die Beine gestellt: Krippenspiele, Bräuche pflegen in der Familie, auch die Sternsinger werden aktiv - anders. Danke für die Kreativität! Corona kann uns Weihnachten nicht nehmen. Wer Mensch sein will, braucht Weihnachten. Es soll keine Corona-Generation geben, die Weihnachten nicht kennt.

Bischof Klaus Hemmerle meint: „Mensch werden heißt Kind werden. Der Weg zum Menschsein führt über das Kind. Es ist Gottes eigener Weg. Gottes Sohn ist Mensch geworden, indem er Kind wurde. Das Kind in der Krippe lädt uns ein, mit ihm Mensch zu sein und von ihm göttliches Leben zu empfangen.“ Transeamus! Auf, lasst uns gehen! An Weihnachten ist Gott aus sich herausgegangen. Er ist nicht bei sich im Himmel geblieben, er hat sich an die „Peripherie“ gewagt, würde Papst Franziskus sagen. Er ist auf die Erde gekommen – an die Peripherie der Galaxien; er ist in die Randgebiete der Menschen gegangen – in einen kleinen Winkel der damals bekannten Welt; und er ist selbst Mensch geworden. Wenn Gott so aus sich herausgegangen ist, dann ruft Weihnachten uns zu: Mensch, komm auch du heraus!

Da ist einer, der mir etwas zutraut, der mit Lob und ehrlicher Anerkennung nicht geizt. Das tut mir einfach gut! Ich beginne neu zu leben.
Da ist einer, der mir Gehör und Verständnis schenkt. Ich erfahre es als herrliches Geschenk, dass ich einem Menschen so kostbar und wichtig bin. Ich lebe auf. Da ist einer, der hat ein Kapitel bitterer Lebenserfahrung hinter sich. Es ist schwer, alles aufzuarbeiten und langsam aus Trauer und Enttäuschung herauszufinden. Da findet er einen, der ihn auf dem mühsamen Weg an der Hand nimmt. Und er spürt, dass die Einladung des Weihnachtsengels Wirklichkeit wird: „Fürchte dich nicht!“ Wenn auch nur in kleinen Schritten – doch es geht weiter! Ich kann dem Leben wieder trauen und auf Gott und Menschen bauen.

Transeamus! Auf, lasst uns nach Betlehem gehen und das Ereignis sehen, das der Herr verkünden ließ. Das Wort ist Fleisch geworden, Gott wurde Kind. Kommt, lasset uns anbeten!

28.12.2020 - Bistum Augsburg