Menschen erzählen über ihre Situation in der Corona-Krise:

„Bisschen wie Weltuntergang“

Das Coronavirus hält die Welt in Atem. Es gibt kaum ein Land, das nicht in irgendeiner Form von der Pandemie betroffen wäre. Immer mehr Menschen stecken sich mit der gefährlichen Atemwegserkrankung Covid-19 an. Zehntausende sind bereits gestorben. Wie erleben die Menschen weltweit den Ausnahmezustand?

Das erste Epizentrum der Corona-Krise in Europa war Italien. Allein hier starben mehr als 10 000 Menschen. „Unsere Kinder sind seit dem 24. Februar zu Hause“, berichtet Stefania Nicolini aus Mirandola in der besonders betroffenen Region Emilia Romagna. „Seitdem sind die Schulen hier geschlossen. Unser Bewegungsspielraum wurde seither immer weiter eingeschränkt. Jetzt haben wir eigentlich gar keinen mehr.“ 

Auf die Straße darf man nur noch zum Einkaufen. Außer Supermärkten und Apotheken sind alle Geschäfte geschlossen. „Wir müssen zu Hause oder in unserem Garten bleiben“, sagt Nicolini. „Viele Menschen arbeiten im Homeoffice – ich auch.“ Ihr Lebenspartner Fabrizio kann weiter zur Arbeit gehen. „Er ist in einer Fabrik beschäftigt, die pharmazeutische Maschinen herstellt und somit systemrelevant ist.“ 

Das Schwerste sei, sagt Nicolini, „unsere Kinder Bianca und Dario wochenlang hier zu Hause so isoliert zu sehen. Sie können und dürfen nicht mit ihren Freunden spielen. Sie dürfen nicht in den Park, nicht zur Schule, nicht auf den Sportplatz.“ Die Familie macht das Beste aus der Situation: „Wir kochen, malen auf der Terrasse, machen Schulaufgaben und spielen im Garten.“ Sie selbst versuche, den Kindern Englischunterricht zu geben – zumindest spielerisch.

„Isolation ist nicht einfach“, sagt auch Enrico Diazzi, Beamter im italienischen Außenministerium in Rom. Ihn erinnert die Situation an Hausarrest – „aber ohne ein Verbrechen begangen zu haben“. Ende Februar besuchte er seine Familie im Norden Italiens, im Risikogebiet. Nach der Rückkehr musste er sich in häusliche Quarantäne begeben. Das war, bevor das ganze Land zum Stillstand kam.

Nun arbeitet Diazzi von zu Hause: „Es hilft, wenn man sich morgens nach dem Aufwachen wie fürs Büro fertigmacht und sich für den Rest des Tages an einen Ablaufplan hält.“ Mit Freunden kommuniziert er per Internet über Video-Chat. „Zu Hause bleiben ist das einzige, was normale Leute wie wir tun können, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Unser Dank gilt den Ärzten, Krankenschwestern, Pflegern und allen anderen, die an vorderster Front gegen die Katastrophe kämpfen – für uns alle.“

Die weltweit höchsten Infiziertenzahlen weisen die Vereinigten Staaten auf. Die Pandemie könnte in den USA bis zu 200 000 Todesopfer fordern, befürchtet Präsidentenberater An-thony Fauci. Allein im Bundesstaat New York starben bislang mehr als 1000 Menschen. Auch die Karnevalshochburg New Orleans am Golf von Mexiko gilt als Epizentrum.

In ländlicheren Gebieten schlägt die Krise dagegen noch wenig durch. Bruce und Marylin Behringer fühlen sich in ihrem Städtchen Powhatan im US-Bundesstaat Virginia nach wie vor sicher. „Der Supermarkt ist nicht weit weg, und nach vorübergehenden Engpässen durch Hamsterkäufe kommt jetzt wieder neue Ware in die Regale. Wir haben noch genug Essensvorräte und sind froh, einen zweiten Gefrierschrank in der Garage zu haben.“

Die Behringers sind Rentner und damit ohnehin viel zu Hause. Die Ausgangssperren schränken sie nur wenig ein. Damit alle gesund bleiben, wollen sie sich an die Abstandsregelungen halten. „Wir haben viele Bücher aus der Bücherei entliehen. Mit unseren Angehörigen kommunizieren wir jetzt per Video--Chat. Unsere Enkelkinder sind alle daheim bei ihren Eltern. Glücklicherweise können alle zu Hause im -Homeoffice weiterarbeiten.“

Als Deutscher, der in den USA arbeitet, ist Christian Dehm besonders von den Einschränkungen betroffen. Eigentlich hätte der 36-Jährige, der mit Frau Becca und Sohn Liam in Chesapeake an der Atlantikküste wohnt, dieser Tage zu den Eltern nach Deutschland fliegen wollen. „Der Flug ist natürlich verschoben.“ Auch eine Geschäftsreise nach Chicago wurde gestrichen. 

„Privat schotten wir uns so gut wie möglich ab, sind hauptsächlich daheim, kochen viel selbst und unternehmen viele Spaziergänge mit Liam.“ Wegen der Umstellungen in der Produktion hat Dehm momentan viel zu tun. „Der Slowdown“, also die durch Corona verursachte Entschleunigung, „ist bei mir noch nicht angekommen.“

In China, wo das neuartige Coronavirus erstmals auf Menschen übersprang, ist mittlerweile beinahe wieder Normalität eingekehrt. Zumindest nach offiziellen Angaben gibt es in der Volksrepublik so gut wie keine Ansteckungen mehr. Die wenigen Fälle von positiven Tests seien auf Reisende aus dem Ausland zurückzuführen, heißt es.

David Lam aus Hongkong erinnert sich an den Beginn der Krise: „Mitte Januar war ich am Flughafen und beobachtete Menschen, wie sie zahlreiche Packungen mit OP-Masken in ihr Gepäck steckten.“ In Hongkong ist die Erinnerung an die Sars-Epidemie von 2003 noch wach. „Mehr als 1700 Menschen wurden infiziert, 299 starben, darunter sechs Ärzte und Krankenschwestern“, fasst Lam die „bitteren Erfahrungen“ der Einheimischen in Hongkong zusammen.

Damals wie heute empfehlen Experten ähnliches: „in der Öffentlichkeit einen Mundschutz tragen, Abstand halten, die Hände regelmäßig waschen, den Toilettendeckel schließen, bevor man spült.“ Die Empfehlungen werden weitgehend umgesetzt, hat Lam beobachtet: „99 Prozent der Leute auf der Straße tragen jetzt eine Maske.“ 

Politisch gern gesehen ist das nicht: Die Peking-treue Stadtregierung sieht sich seit geraumer Zeit mit teils gewaltsamen Protesten konfrontiert, denen sie unter anderem mit einem Verbot der Gesichtsverhüllung begegnen will. „Weil sie die Grenzen zum chinesischen Festland nur widerwillig schloss, um die Corona-Ausbreitung zu verlangsamen, ist das Vertrauen in die Regierung sehr gering.“

Anders als etwa in Deutschland bedeutet die Ausgangssperre in Hongkong, dass auch alle Grün-anlagen geschlossen wurden. „Unsere wöchentlichen Bowling-Treffen im Park mussten leider eingestellt werden“, bedauert Lam. Immerhin sieht er jetzt aber das sprichwörtliche „Licht am Ende des Tunnels“ – wenn es denn gelingt, den Zustrom an infizierten Reisenden aus dem Ausland zu stoppen.

Indien war lange kaum von den Folgen der Corona-Krise betroffen. „Das Virus breitete sich hier etwas später aus als in China und Europa“, schildert Lakshmi Kanthan. „Die letzten Monate verfolgten wir die Nachrichten aus der ganzen Welt. Das Leben hier ging aber weitgehend seinen normalen Gang.“ Viele Inder seien überzeugt gewesen, das Virus könne die tropischen Temperaturen nicht überleben.

Schließlich stiegen die Infiziertenzahlen stetig an. Wer zu Beginn der Krise im Ausland war und zunächst nicht ausreisen konnte, kehrte auf den Subkontinent zurück. „Viele von ihnen wurden positiv getestet“, sagt Kanthan. Die Regierung von Premierminister Narendra Modi musste die Notbremse ziehen: Ausgangssperre für mehr als eine Milliarde Inder!

„Ich denke, die Regierung hat die richtigen Maßnahmen getroffen“, sagt Kanthan. „Angesichts der enormen Bevölkerungsdichte besteht die Gefahr, dass die Ausbreitung des Virus alptraumhafte Ausmaße annimmt.“ Kanthan hofft, dass die Welt die Kraft hat, diese „beispiellose Situation“ zu meistern, sodass sie schon bald zur Normalität zurückkehren kann.

„Das Coronavirus hat die Welt verändert wie nichts zuvor“, sagt Pratap Katarya aus Sydney: „Es beeinflusst den Alltag praktisch jedes Menschen auf dem Planeten.“ In seiner Heimat Australien haben „fast alle Geschäfte, die nicht essenziell sind, geschlossen“. Wer kann, arbeitet von zu Hause. „Kleine und mittlere Unternehmen sind am schwersten betroffen.“ Die Regierung wolle Firmen und Kommunen mit Milliardenhilfen stützen. „Unglücklicherweise folgt das Virus den jüngsten Katastrophen auf dem Fuß: den massiven Buschbränden und Überschwemmungen in mehreren Bundesstaaten.“

Seit Beginn der Krise sei ein „sehr unschönes Verhalten“ zu beobachten: Panikkäufe in Supermärkten. Insbesondere die Nachfrage nach Toilettenpapier sei enorm gestiegen. Mitunter versuche man über Wochen vergeblich, welches zu bekommen. Australiens Politik sieht die Hamsterkäufe sehr kritisch: „Der Premierminister hat dieses Verhalten als unaustralisch bezeichnet.“

Um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, schlägt Katarya vor, das klassische Händeschütteln durch die Grußgeste „Namaste“ zu ersetzen, einen „traditionellen Gruß von Milliarden Menschen auf dem indischen Subkontinent und in Südostasien“. Dabei werden üblicherweise die Innenflächen der Hand zusammengeführt, in der Nähe des Herzens an die Brust gelegt und der Kopf leicht gebeugt. Das sei „eine der respektvollsten Gesten, die ein Mensch einem anderen zeigen kann“, ist Pratap Katarya überzeugt.

Gemischte Gefühle angesichts der Ausbreitung von Corona hat Justin Salmon, IT-Teamleiter aus Bury St. Edmunds in Großbritannien: „Einerseits versuche ich, normal weiterzumachen. Andererseits macht mich die Krisenstimmung etwas melancholisch.“ Sein Arbeitgeber habe ihm lange nur ein bis zwei Tage pro Woche zu Hause für Recherchen genehmigt. „Nur Kollegen, die zur Risikogruppe gehören, bekamen Homeoffice.“

Viele seiner Freunde, die kleine Läden, Bars oder Restaurants führen, leiden unter Einbußen und haben Angst, bald völlig mittellos dazustehen. „Im Moment ist noch völlig unklar, wie die Regierung ihnen helfen will.“

Obwohl jetzt auch in Großbritannien eine Ausgangssperre in Kraft ist, geht Salmon an manchen Tagen noch ins Büro. Nach wie vor seien viele Leute draußen unterwegs. Es gebe sogar Aufrufe, verstärkt wieder regulär arbeiten zu gehen. „Wir sind mit dem Homeoffice übers Ziel hi-nausgeschossen“, meinen manche.

Salmon befürchtet, dass die Si-tuation nicht ernst genug genommen wird. „Jeden Tag erfährt man aus den Medien, dass Großbritan-nien weniger Intensivbetten und Ärzte pro Kopf hat als die meisten anderen Länder Europas.“ Dass erst so spät eine Ausgangssperre verhängt wurde, wundere ihn. „Die ganze Energie, mit der der Brexit betrieben wurde, scheint verpufft zu sein. Da sieht man, dass es bloßer Aktivismus war.“

Auch in seiner Umgebung leeren sich in den Supermärkten die Regale. „Ich habe eine ganze Woche lang vergeblich versucht, ein paar Würfel Hefe und ein Fieberthermometer zu kaufen. In einer Apotheke sagte man mir, viele Kunden hätten zuletzt gleich ein halbes Dutzend gekauft. Nachschub wird nur einzeln und auf Nachfrage ausgehändigt.“

Ganz unvorbereitet ist er nicht: „Glücklicherweise habe ich noch einige haltbare Lebensmittel, die ich vor dem 31. Oktober besorgt hatte – für den Fall eines No-Deal-Brexits und möglicherweise daraus folgender Lebensmittelknappheit.“ Inzwischen gehen aber auch die zur Neige. „Es fühlt sich alles ein bisschen wie Weltuntergang an. Ich frage mich, wie das weitergehen wird.“

„Man merkt, wie frei man sich vor den Maßnahmen bewegen konnte“, sagt Markus Freinberger aus Niederösterreich. Österreich war eines der ersten europäischen Länder nach Italien, die eine Ausgangssperre verhängten. „Ich habe einen kleinen Garten, so kann ich an die frische Luft, ohne im öffentlichen Raum herumzurennen. Seit die Maßnahmen in Kraft sind, habe ich gemerkt, wie wichtig zwischenmenschliche Interaktion ist – wenn man mit den Nachbarn nur von Fenster zu Fenster sprechen kann und immer darauf bedacht ist, den Abstand zu halten.“ 

Die Ausgangssperre bezeichnet Freinberger als „sehr gravierend und einschneidend – das krasse Gegenteil von typisch österreichischen Behördenreaktionen“. Diese liefen meist nach dem Motto „Schauen wir mal“ ab. Der Gesundheitsminister habe hier gut und rasch gehandelt. 

„Sofern diese Maßnahmen nach dem Ende der Corona-Problematik wieder aufgehoben werden, habe ich damit absolut kein Problem“, sagt Freinberger. „Gefährlich werden die Maßnahmen nur, wenn diese in Kombination mit der Angst vor Corona zur dauerhaften Aufhebung von Grundrechten führen.“

Thorsten und Victoria Fels

02.04.2020 - Ausland , Corona , Gesellschaft