Wallfahrtsort Neviges

Brutal beeindruckend

Neviges im Bergischen Land gehört nicht zu den bekanntesten Wallfahrtsorten in Deutschland. Ganz anders seine Wallfahrtskirche: Sie hat einen Ruf als Architekturdenkmal. Der Ende der 1960er Jahre erbaute Mariendom gilt als ein Höhepunkt des neueren Kirchenbaus. Architekturhistorisch wird er dem umstrittenen Stil des Brutalismus zugerechnet. Weil die Franziskaner, die die Pilger bislang betreut haben, Neviges den Rücken kehren, bangt der Wallfahrtsort jetzt um seine Zukunft.

1680 vernahm Franziskaner Antonius Schirley beim Beten in seinem Kloster in Dorsten eine Stimme. Sie schien aus dem Marienbildnis, vor dem er kniete, zu sprechen und ihn zu bitten, das Bildnis in die Herrschaft Hardenberg zu bringen, zu der das Dorf Neviges gehörte. Da die Stimme eine Krankenheilung in Aussicht stellte, schickte Antonius den kleinen Kupferstich der „Maria Immaculata“ auf die Reise. 

Nachdem der Fürstbischof von Paderborn und Münster, Ferdi­nand von Fürstenberg, nach schwerer Krankheit genesen war, pilgerte er 1681 nach Neviges und sorgte – als Dank an die Gottesmutter – für die Fertigstellung des dortigen Klosterbaus. 1688 wurde die Genehmigung der Wallfahrt durch den Kölner Generalvikar erteilt. Papst Clemens XII. (1730 bis 1740) sagte allen Neviges-Pilgern einen Ablass zu. 

Auflösung des Klosters

Kurz vor der diesjährigen Wallfahrtseröffnung am 1. Mai wurde bekannt, dass die Franziskaner, die die Wallfahrt seit dem 17. Jahrhundert betreut haben, Neviges verlassen werden. Die Leitung der Deutschen Franziskanerprovinz hat die Auflösung des 1675 gegründeten Klosters zum Anfang des kommenden Jahres beschlossen. Der Grund: die sinkende Zahl und das hohe Durchschnittsalter der Ordensbrüder. 

Wer wird nun die Marien-Wallfahrt betreuen? Es gibt Handlungsbedarf in Neviges und im Bistum Köln. In diesen Zusammenhang passt ungewollt das aktuelle Wallfahrtsmotto: „Herr, wohin sollen wir gehen?“ Diese Frage von Petrus war ausgewählt worden, um die Verunsicherung, die immer mehr Menschen umtreibt, auf den Punkt zu bringen. „Wir wollen das Tragfähige unseres Glaubens in den Blick nehmen und feiern“, heißt es im Grußwort der Franziskaner. 

Das Ziel der Neviges-Wallfahrer ist der Mariendom, der mit vollem Namen „Maria, Königin des Friedens“ heißt. Der Bau, vor 50 Jahren fertiggestellt, war nötig geworden, weil die Pilgerzahlen immer weiter gestiegen waren. Die frühere Wallfahrts- und heutige Pfarrkirche konnte nicht alle Besucher aufnehmen. Das von Architekt Gottfried Böhm erbaute Gotteshaus bietet unbestuhlt 6000 Menschen Platz und ist nach dem Kölner Dom die zweitgrößte Kirche im Erzbistum Köln. 

An dem Bauwerk scheiden sich bis heute die Geister. Mit einem klassischen Kirchenbau haben die Betonfelsen, die restaurierungsbedürftig und wenig einladend auf einem Hügel über den Fachwerkhäusern thronen, nichts gemein. Sie sind im Stil des Brutalismus errichtet. Wie ein Ungetüm sprengen sie die Dimensionen des Örtchens. Die Besucher werden nicht mit offenen Armen, sprich von großen Portalen, empfangen, sondern von niedrigen Glastüren, die sich unter dem wuchtigen Grau der Aufbauten zu ducken scheinen. 

Das von rohem Beton geprägte Innere, das einem umbauten Marktplatz mit Altar in der Mitte entsprechen soll, ist fast dunkel. Der unregelmäßige Grundriss wird von einem freitragenden, 2700 Quadrat­meter großen Dach aus gefalteten Betonflächen bedeckt. Wären da nicht die nach Entwürfen des Architekten gestalteten Fenster, man würde den Gedanken an einen Bunker nicht los. Architekt Böhm sah sein Werk auch als Plastik. Er betonte den skulpturalen Charakter des Betonbaus. 

Ein schlichter Bau

Unterhalb des Mariendoms, zu dem man über die Pilgertreppe mit ihren ebenfalls brutalistisch entworfenen Gebäuden ansteigt, liegt die Klosterkirche. Von außen wirkt der Bau schlicht, innen überrascht die barocke Ausstattung. Weitere Ziele der Pilger sind in Neviges der Kreuz- und der Marienberg, beide unweit des Mariendoms. 

Über einen Serpentinenweg erreicht man eine lebensgroße Kreuzigungsgruppe. Der Aufstieg auf den Marienberg ist ebenfalls steil. Er führt vorbei an den 14 Stationen des Kreuzwegs zu einer Kapelle. Auch diese in den 1930er Jahren geplante Gebetsstätte verdankte sich dem immer größer gewordenen Pilgerstrom. 

Hier zeigt sich: Wer nach Neviges pilgert, muss nicht nur mit einem toleranten Blick auf den modernen Kirchenbau ausgestattet sein oder diesen sogar mögen. Er braucht auch eine gute Kondition.

Ulrich Traub