Vorbild vor 225 Jahren gestorben

Das fromme Schneewittchen

Es begab sich 1986, als das Schneewittchen in Lohr am Main drei neue Väter bekam. Ein Trio aus Fabulogen fand in einer Weinstube unter Zufluss gewisser Tropfen heraus, dass die weltberühmte Märchengestalt ein historisches Vorbild besaß: die aus Lohr stammende Maria Sophia Katharina Margaretha von Erthal, geboren 1725 und gestorben am 16. Juli 1796, vor 225 Jahren. 

Fernsehsender und Zeitungen stürzten sich auf die Story, und Lohr am Main begann die Vermarktung als „Schneewittchenstadt“ – bis hin zu einer Reihe von Hobbydarstellerinnen, die Schneewittchen bei verschiedensten Anlässen mimen. 

Der Hype ist ungebrochen, doch die Parallelen waren allzu weit hergeholt. Denn das „echte“ Schneewittchen führte jahrzehntelang ein frommes, schweres, zurückgezogenes Leben im Zeichen des Glaubens. Nach ihrem Tod avancierte von Erthal durch die Verteilung ihrer Erbschaft zur christlich-­sozialen Wohltäterin.

Religiöse Familie

Ein Bezugspunkt zwischen Überlieferung und Realität war das Lohrer Schloss, das sich aus dem Stadtkern erhebt und das Spessart-Museum beherbergt. Dort erblickte die Freiherrntochter von Erthal das Licht der Welt, dort verbrachte sie ihre Kindheit und Jugend in einer gläubigen Familie. 

Sie war die ältere Schwester des Franz Ludwig von Erthal, später Fürstbischof von Würzburg und Bamberg, und die jüngere von Friedrich Karl Joseph von Erthal, Kurfürst und Erzbischof von Mainz. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter heiratete der Vater ein zweites Mal. Die neue Frau soll herrschsüchtig gewesen sein und ihre Stellung zum Wohl ihrer Kinder aus erster Ehe ausgenutzt haben.

Gut auf Märchen übertragbar

Das Umfeld schien also bestens auf die Figur von Schneewittchen übertragbar, die man aus der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm kannte. Dort lebte die Königstochter Schneewittchen am Hofe. Nach dem Tod der leiblichen Mutter bekam sie eine böse Stiefmutter, die es hasste, an Schönheit übertroffen zu werden. 

Sie befragte ihren Wunderspiegel mit den Worten „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“. Die Antwort lautete: „Frau Königin, ihr seid die Schönste im ganzen Land“ – bis mit dem Heranwachsen Schneewittchens der Zusatz lautete „Aber Schneewittchen ist 1000 Mal schöner als ihr“ und die Missgunst der Stiefmutter stieg. Sie beauftragte einen Jäger, die Stieftochter im Wald zu töten. Doch dieser gelang die Flucht zu den sieben Zwergen. Dorthin stellte die verkleidete Königin ihr nach und vergiftete sie mit einem Apfel.

Sprechender Spiegel

Der „Schneewittchen-Spiegel“ ist ein Prunkstück im Spessart-Museum. Er wurde um 1715/20 in der örtlichen Spiegelglasmanufaktur gefertigt, war mit Rotlack bestrichen und konnte – wenn man so will – tatsächlich „sprechen“. Zumindest auf Französisch. Und zwar dergestalt, dass er sich in zwei kunstvollen Medaillons mit Aussprüchen an die Betrachter wendete. Einer lautete „Wahre Liebe“, der zweite „Zum Lohn und zur Strafe“. 

Den Spiegel, der damals in den 1980er Jahren im Lohrer Weinhaus hing, sieht Museumsleiterin Barbara Grimm (58) als „Auslöser“ für jene „Märchen-Archäologie“, die die drei Fabulogen betrieben. Doch wie steht es um Wahrheitsgehalt und Seriosität? „Das Thema macht uns natürlich bekannt und verschafft uns Gäste“, räumt Grimm ein. Doch das „Lohrer Schneewittchen“ sei nur „ein winziger Bruchteil der Schlossgeschichte und der Menschen, die hier gelebt haben. Deswegen ist es für uns immer wichtig, das Ganze mit einem zwinkernden Auge zu erzählen, damit die Leute nicht glauben, hier ist alles nur Schneewittchen-Schloss.“ 

Blaues Themenzimmer

Ein Zugeständnis ans breite Interesse ist das blau gestaltete „Schneewittchen-Kabinett“. Dort ist der Spruch vom „Spieglein, Spieglein an der Wand“ in diversen Sprachen interaktiv abrufbar. Außerdem läuft der älteste erhaltene Schneewittchen-Film von 1916.

Ein Verdienst des Spessart-Museums liegt darin, das Dasein der Maria Sophia Katharina Margaretha von Erthal ungeschönt zu erhellen. Bei näherer Betrachtung hatte sie fast nichts mit der Märchengestalt gemein. So blendeten die Fabulogen aus, dass von Erthal seit einer Krankheit als Kind fast erblindet war und ihr Augenlicht später komplett erlosch. 

Niemals dürfte sie den Weg „über die sieben Berge zu den sieben Zwergen“ gefunden haben, wie man ihn aus dem Märchen kennt und nunmehr als „Schneewittchenweg“ durch den Spessart von Lohr ins 35 Kilometer entfernte Bieber ausgewiesen ist. Sieben Berge müssen überquert werden, um zu den Bergwerken im Biebergrund zu gelangen.

Bei der Congregatio Jesu

In Wahrheit zog von Erthal von Lohr nach Bamberg, wo sie über ein halbes Jahrhundert am Institut der Englischen Fräulein lebte, heute Congregatio Jesu und Maria-Ward-Schulen, ohne allerdings in die Ordensgemeinschaft einzutreten. Ein Prinz – wie bei Schneewittchen – trat nicht in ihr Leben. Sie blieb ledig und wurde einzig von einer treuen Kammerfrau begleitet. Gemeinsam bewohnten sie mehrere Räume des Instituts; zu den persönlichen Gegenständen zählten zwei Betstühle und vier Rosenkränze.

„Das edle Freifräulein ertrug all ihre Leiden und ihre endlich gänzlich erfolgte Erblindung durch die Kraft ihres Glaubens mit der kindlichen Ergebung in den Willen Gottes“, schrieb 1864 der Bamberger Gymnasiallehrer Joseph Gutenäcker. 

"So weiß wie Schnee..."

In Grimms Märchen war Schneewittchen „so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz“. Wie das Freifräulein von Erthal ausgesehen haben könnte, zeigt ein Miniatur-Porträt, das in den 1780er Jahren vermutlich nach einer älteren Vorlage entstand. Es befindet sich im Besitz der Staatsbibliothek Bamberg, ist aber nicht öffentlich ausgestellt. 

Zu sehen ist auf einer winzigen Fläche von 6,3 mal 4,6 Zentimetern eine Dame mit weißer Haut, geröteten Wangen und hellen Haaren mit extrem hohem Dutt. Auffallend sind die weit aufgerissenen Augen. Diese wurden, so Gerald Raab von der Bamberger Staatsbibliothek, „nicht ‚blind‘ dargestellt, was den Zweifel an der Echtheit des Bildes erhöht, gleichzeitig aber auch den Wunsch nach ‚Schneewittchen-Beweisen‘ nährt“.

Am Ende ward alles gut

Will man eine Parallele erstellen, dann diese, dass beide Geschichten ein gutes Ende fanden. Im Märchen wurde Schneewittchen dank des Prinzen zum Leben wiedererweckt, während Maria Sophia Katharina Margaretha von Erthal posthum zur großen Wohltäterin aufstieg. Haupterben waren das Krankenspital und ihr Institut, das ein Barvermögen in Höhe von 10 000 Gulden erhielt und dadurch alle Schulden tilgen konnte. Der Institutskirche vermachte sie ein wertvolles gelbes Atlaskleid mit Spitzen, das der Andachtsfigur eines Christuskindes als Bekleidung zugedacht war.

Die Freifrau vergaß in ihrem Testament auch die Hilfskasse für kranke Handwerksgesellen und -lehrlinge nicht, die sie mit 300 Gulden bedachte. Eine kleinere Summe floss an die Bamberger Klöster und Kirchen der Kapuziner, Dominikaner, Karmeliter und Franziskaner – als Gegenleistung für erbetene Seelenmessen für Verstorbene. Jeweils 100 Gulden stellte die Wohltäterin für „arme Studenten“ und den Altar der Schmerzhaften Muttergottes in der alten St.-Martinskirche bereit. So sind beide „Schneewittchen“ auf ihre Art unsterblich geblieben.

Andreas Drouve