Hermann Wohlgschaft gilt als einer der großen Karl-May-Experten. Seine dreibändige Biografie über Leben und Werk des „Vaters“ von Winnetou und Old Shatterhand zählt zu den Standardwerken der Forschung. An diesem Sonntag begeht der katholische Theologe und Ruhestandsgeistliche seinen 75. Geburtstag. Im Exklusiv-Interview zeigt er, wie sich christlicher Glaube und christliches Handeln durch Karl Mays Bücher ziehen und wie der Sachse beim interreligiösen Dialog voranging.
Herr Pfarrer, von Ihnen stammt der Satz: „An der christlichen Fundierung von Karl May gibt es keinen Zweifel.“ Was für ein Christ war der sächsische Schriftsteller, dessen Werke zu den meistgelesenen Büchern in deutscher Sprache gehören?
Karl May war getauft und wurde evangelisch-lutherisch erzogen. Abgesehen von einer Krisenzeit Ende der 1860er Jahre blieb er bis zu seinem Lebensende überzeugter Christ – wenn auch nicht unbedingt im streng dogmatischen Sinne. Jedenfalls glaubte er an das Evangelium Jesu Christi und versuchte, dementsprechend zu leben.
„Scharlih, ich glaube an den Heiland“, haucht der tödlich getroffene Apachen-Häuptling Winnetou seinem Blutsbruder Old Shatterhand zu und offenbart damit im Sterben seinen christlichen Glauben. Es ist die wohl bekannteste „christliche“ Szene in Mays Büchern. An welchen anderen Stellen der Winnetou-Geschichten zeigt sich das Thema Religion noch?
Der christliche Glaube wird keineswegs nur in „Winnetou III“ thematisiert, dem Band mit der berühmten Sterbeszene, sondern viel massiver noch in „Winnetou IV“ von 1909/10. Der Titelheld wird in diesem Spätwerk geradezu zum „Heiligen“ stilisiert, zum „Nachfolger Christi“: Er wird als Mensch dargestellt, der die „Imitatio Christi“ zu seinem Lebensprogramm erhob.
Von Winnetou abgesehen: Welche Szenen kommen Ihnen in den Sinn, wenn es um christliches Denken oder Handeln in Mays Werken geht?
In nahezu allen Büchern Karl Mays spielen die Religion und der christliche Glaube eine wichtige, oft sogar eine zentrale Rolle. Am deutlichsten wird dies in der „Old Surehand“-Trilogie, in „Weihnacht!“, in „Am Jenseits“ und in sämtlichen Spätwerken ab 1900. Zu den Szenen, die mich am meisten beeindruckten, gehören die im „Jenseits“-Band geschilderten Nahtoderlebnisse des blinden Münedschi und des Persers Khutab Agha sowie die Dialoge über Sterben, Tod und ewiges Leben in den vier Bänden „Im Reiche des silbernen Löwen“.
Welche Figur aus seinen Büchern spiegelt ganz besonders Karl Mays christliche Prägung?
Da gibt es mehrere Figuren. Zum Beispiel: Pfarrer Heartman in „Und Friede auf Erden!“ und die kurdische Katholikin Marah Durimeh in „Durchs wilde Kurdistan“ sowie in den beiden Spätwerksbänden „Ardistan und Dschinnistan“. Beide stehen für ein tief spirituelles, „ökumenisches“ Christentum, das die interreligiöse Begegnung fördert und voranbringt.