Drohender Krieg in Osteuropa

„Eine Generation wird zerstört“

In der Ukraine wird die Gefahr eines Krieges immer realer. Am Montag verkündete Russland die Entsendung von „Friedenstruppen“ in die Separatisten-Gebiete im Osten des Landes. Das katholische Osteuropahilfswerk Renovabis ist im ständigen Kontakt mit seinen Partnern in der Ukraine. Hauptgeschäftsführer Pfarrer Thomas Schwartz schildert – noch einige Stunden vor der russischen Ankündigung – im Interview seine Sicht der Lage.

Herr Pfarrer Schwartz, Papst Franziskus hat zum Gebet für die Ukraine aufgerufen. Der Augsburger Bischof Bertram Meier hat sich diesem Appell angeschlossen und betont, die Ukrainer bräuchten unsere Solidarität. Wie erleben Sie die Notlage, in der sich die Ukrainer seit Monaten befinden?

Die Notlage ist ja nicht nur eine, die es erst seit Monaten gäbe. Wir müssen konstatieren, dass sich die Ukraine seit über acht Jahren faktisch in einem Kriegszustand befindet. 2014 ist nicht nur die Krim von Russland völkerrechtswidrig annektiert worden. Sondern es wurde auch unter vorgeschobenen Gründen ein erklecklicher Teil der Ostukraine von sogenannten Volksrepubliken rund um Luhansk und Donezk besetzt. Die dortige Menschenrechtslage ist dramatisch. 

Das zeigt, was die ganze Ukraine zu erwarten hätte, wenn es zu einer Invasion käme. Die Menschen in der Ukraine sind diese Bedrohung eigentlich gewohnt. Und das Schlimme ist, dass diese Gewohnheit der Gewaltdrohung gerade bei den vulnerablen Gruppen, also bei alten Menschen, vor allem aber auch bei Kindern und Jugendlichen, zu schweren Stresssymptomen führt – jenseits der Not, die durch drei Millionen Binnenflüchtlinge entsteht.

In diesem Konflikt, in der „Kontaktzone“, leben über 250 000 Kinder und Jugendliche. Unter ihnen gibt es sehr viele, berichten uns unsere Partner von der Caritas Ukraine, die verhaltensauffällig werden, die Beziehungsschwierigkeiten, Risikoverhalten an den Tag legen. Bei uns würde das nur noch die Alarmglocken läuten lassen. Dort wird das aber mittlerweile, weil die Eltern ja selber täglich unter solchem Stress stehen, eigentlich fast nicht behandelt. 

Eine ganze Generation von Menschen wird zerstört, psychisch und in ihren menschlichen Beziehungen. Das ist der dramatische „Kollateralschaden“ dieser politisch-militärischen Spielchen der russischen Führung. 

Im Osten der Ukraine erscheint die Bedrohung durch den Truppenaufmarsch am unmittelbarsten. Wie schätzen die Menschen dort die Situation ein?

Die Bedrohung ist wirklich gegeben. Ich habe unlängst mit der Caritaspräsidentin der Ukraine gesprochen. Sie berichtet: Einerseits versucht man, sich von der Bedrohung seinen Tagesablauf nicht diktieren zu lassen. Andererseits bereiten wir uns natürlich mit unseren Partnern auf Millionen von Flüchtlingen vor – im Land selber. Mit der Notwendigkeit, Zeltstädte und mobile Küchen aufzubauen und ähnliches. Was mich wundert, ist, dass wir uns in West- und Mitteleuropa noch nicht klargemacht haben, dass eine Flüchtlingswelle auf uns zukommen kann, die das, was wir 2015 erlebt haben, bei Weitem in den Schatten stellt. 

Die Menschen sind bereit, ihr Land zu verteidigen. Sie sind in den letzten acht Jahren sehr viel „ukrainischer“ geworden. Das traumatische Geschehen, das die Ukrainer zu einer Nation gebildet hat, ist durch die Interventionen Russlands in diesen Jahren viel stärker geworden. Sie wollen ihr Land verteidigen. Und sie wollen von uns „Rückendeckung“ dafür, dass sie das tun können. Das muss auch mit Taten unterstützt werden.

Die Haltung der Bundesregierung ist: Deutschland steht an der Seite der Ukraine, lehnt aber Waffenlieferungen dorthin ab. Sehen Sie darin einen Weg, den Frieden zu bewahren?

Es ist nicht Aufgabe von Renovabis, über die Sinnhaftigkeit von Waffenlieferungen nachzudenken. Wir müssen vielmehr alles, was in unserer Macht steht, tun, um die „Deeskalations­kanäle“ noch offenzuhalten. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die Bundesregierung als einer der wenigen Staaten in Europa bisher Waffenlieferungen ausgeschlossen hat. Um wenigstens diese Verhandlungsfähigkeit zu behalten. 

Aber ich glaube in der Tat: Die Zeit des reinen Redens ist vorbei, es muss auch ein Abschreckungspotenzial aufgebaut werden. Das auch die Kosten einer Invasion – und nicht nur die ökonomischen – für Russland aufzeichnet. Auf alle Fälle muss der Ukraine in jeder möglichen Weise geholfen werden. 

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz wurde darüber beraten. Renovabis hatte während der Konferenz zu einem Friedensgebet eingeladen. Wie bewerten Sie das Treffen und die Bemühungen des Westens?

Renovabis hat aus Anlass der Sicherheitskonferenz zu einem bundesweiten ökumenischen Friedensgebet geladen. Daran haben sich dankenswerterweise auch etliche Bis­tümer und Landeskirchen und viele Gemeinden beteiligt. 

Bei der Konferenz wurde noch einmal die Einheit und die Einheitlichkeit einer massiven Reaktion seitens der westlichen Länder hinsichtlich einer weiteren Eskalation deutlich gemacht. Das war etwas, was wir über Jahrzehnte nicht wahrnehmen konnten: dass der Westen, die Nato-Länder und die Europäi­sche Union, nicht nur mit einer Stimme gesprochen hat, sondern diese Stimme koordiniert worden ist zwischen allen Beteiligten. 

Renovabis hat für die Kinder und Jugendlichen in der Ukraine in den vergangenen Jahren Millionen ausgegeben. Allerdings, wenn Sie dann hören, dass eine einzige Kampfdrohne sehr viel mehr Geld kostet als die humanitäre Hilfe, die wir jetzt versuchen, ganz schnell zu leisten, dann kann man da auch ein wenig frus­triert werden. 

Andererseits glaube ich, es schadet uns als Christen ganz und gar nicht, uns dem Gebet anzuvertrauen. Gebet heißt ja, sich in die Gegenwart Gottes zu begeben. Und wo die Gegenwart Gottes groß ist, ist die Gegenwart des Bösen kleiner. Das kann uns helfen, Bewusstsein für die Nöte der Menschen zu haben und Nächstenliebe zu empfinden. Und dann auch zur Tat zu schreiten und deutlich zu machen, dass wir diesen Menschen helfen möchten.

Interview: Ulrich Schwab

24.02.2022 - Hilfswerke , Krieg , Russland