Schwester Blandina bot „Billy the Kid“ die Stirn

Eine Nonne im Wilden Westen

TRINIDAD – Rosa Maria Segale, die katholische Ordensfrau, die unerschrocken selbst mit dem gefürchteten Revolverhelden „Billy the Kid“ zu verhandeln wusste: Sie könnte die nächste Heilige der USA werden. Die ersten Schritte zu ihrer Seligsprechung sind eingeleitet.

Der jugendliche Outlaw William Bonney, genannt „Billy the Kid“, hegte finstere Rachepläne. Als er erfuhr, dass sich vier Ärzte in der Stadt Trinidad in Colorado geweigert hatten, die lebensgefährliche Schussverletzung eines Bandenmitglieds zu versorgen, gab es für ihn kein Halten mehr. Wild entschlossen, die vier Mediziner, welche seinem Freund die Nothilfe verweigerten, einen nach dem anderen zu skalpieren, kam er in die Stadt geritten. Der gefürchtete Bandit dürfte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als 17 Jahre gezählt haben. 

Als Segale, die in Trinidad Dienst tat, von der Verletzung des Bandenmitglieds erfuhr, versorgte sie dessen Wunden und rettete ihm so das Leben. „Billy the Kid“ erreichte kurze Zeit später die Stadt. Segale trat ihm furchtlos entgegen und forderte ihn auf, von seinem Racheplan Abstand zu nehmen. Billy war einverstanden, bedankte sich bei Segale und ihren drei Mitschwestern für die Rettung des Freundes – und versicherte ihnen seine Loyalität. 

Wie aber kam eine katholische Nonne in den „Wilden Westen“, den man gemeinhin nur von Cowboys und Indianern, Siedlern und Goldsuchern bevölkert glaubt? Die kleine Rosa Maria Segale wurde in Cicagna bei Genua in Italien geboren. 1854, als sie vier Jahre alt war, entschlossen sich ihre Eltern, nach Amerika auszuwandern. Rosas fünfter Geburtstag wurde auf dem Dampfer gefeiert. Cincinnati in Ohio war das Reiseziel der Familie. Dort wuchs Rosa zusammen mit ihrer Schwester Justina auf. 

Den erhofften Wohlstand traf die Familie in der neuen Heimat nicht an: Sie hatte weiterhin gegen Armut zu kämpfen – und mit den Schwierigkeiten des Lebens von Immigranten. Umso mehr beeindruckt war die kleine Rosa vom Wirken der „Sisters of Charity“, der Barmherzigen Schwestern von Mutter Seton, die sich um Waisen und Kranke kümmerten. Mit 16 Jahren trat Rosa dem Orden bei. Fortan nannte sie sich Schwester Blandina. Bald war sie als Grundschullehrerin in Steubenville und Dayton tätig.

Blandina war gerade 22 Jahre alt, als beim Kloster aus der Minenstadt Trinidad im Wilden Westen die eindringliche Bitte eintraf, eine Lehrerin für die Kinder der Pionierfamilien zu entsenden. So wurde Schwester Blandina ganz alleine nach Colorado gesandt, per Zug und mit der Postkutsche: ein Wagnis und eine große Herausforderung für eine alleinreisende junge Frau. 

Die Pionierstadt, die zwei Jahrzehnte zuvor noch zu Mexiko gehört hatte, war zu jener Zeit von Abenteurern jeglicher Couleur bevölkert: Veteranen des amerikanischen Bürgerkriegs, befreiten Sklaven, vertriebenen Indianern, Cowboys und Siedlern. 

Schwester Blandina notierte: „Männer mit etwas Geld wollen hier schnell Millionäre werden. Neusiedler kommen an, erfahrene und auch unerfahrene Schürfer, Quacksalber, professionelle Betrüger, Verkäufer, die Anteile von Goldfeldern – die es gar nicht gibt – feilhalten.“ Es gab damals kein „Law and Order“ im Westen, weder Gesetz noch Ordnung. Der, der am schnellsten den Colt zog oder das schnellste Pferd hatte, war der Gewinner.

Für Waise und Mittellose

Blandina organisierte den Schul­unterricht in Trinidad, kümmerte sich um Waisen und Mittellose, ini­tiierte eine Krankenstation – und trat mutig und entschlossen für die Rechte von Hispanics und der aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben Apachen und Komantschen ein. Wo sie eine Aufgabe für sich sah, packte sie diese an.

Gelegentlich musste Schwester Blandina geradezu heroisch auftreten – zum Beispiel am Tag des „Trinidad Shooting“, einer Schießerei im November 1875. An jenem Tag stürzte ihr Schüler John kreidebleich ins Schulzimmer und sagte: „Papa hat einen Mann erschossen – jetzt wollen sie ihn aufhängen!“

Blandina – gerade einmal 1,50 Meter groß – eilte nach draußen und trat dem Lynchmob, der den Täter hängen wollte, entgegen. Sie konnte den verwirrten Schützen dazu bringen, dass er den tödlich verwundeten irischen Einwanderer um Vergebung bat: Dieser hauchte tatsächlich ein „Ich vergebe“, bevor er starb. Damit war das kein Fall mehr für die Selbstjustiz, sondern für den Richter. Der entschied später, dass der psychisch angeschlagene Schütze in eine Anstalt für Geisteskranke kam.

Jahre später wurde Blandina von ihrem Mutterhaus weiter nach Süden, nach New Mexico, entsandt: zuerst nach Santa Fe, später nach Albuquerque. Dabei begegnete sie „Billy the Kid“ ein zweites Mal. Sie saß in der Kutsche des deutschstämmigen Abraham Staab, die sie nach Santa Fe bringen sollte. 

Die Reisenden waren voller Sorgen: Es war bekannt, dass Billys Bande zwischen Colorado und Santa Fe alles überfiel, was sich zu Geld machen ließ. Tatsächlich wurde die Kutsche von finsteren, schwer bewaffneten Gestalten gestoppt. Ein Reiter näherte sich – es war „Billy the Kid“ persönlich. Der Bandit erkannte Schwester Blandina wieder, tippte mit dem Zeigefinger an den Hut, murmelte ein respektvolles „Ma’am“ (etwa: gnädige Frau) – und wies mit einer Handbewegung den Kutscher an, die Fahrt fortzusetzen.

Zum Mörder geworden

„Billy the Kid“, jener sagenumwobene Revolverheld, war bereits als Jugendlicher in einer Extremsitua­tion zum Mörder geworden. „The Kid“ – also „das Kind“ – sollte er sein ganzes kurzes Leben lang bleiben. Als 21-Jähriger wurde er von Sheriff Pat Garrett in Fort Sumner in New Mexico erschossen – hinterrücks, gab dieser freimütig zu.

Die dürftigen Informationen über das Leben von Billy und seine (angeblichen) Taten ließen ihn zum Mythos werden. In Büchern und Filmen wird er meist als kaltblütiger Killer dargestellt. Viele Geschichten über ihn sind aber verklärt, überhöht oder schlichtweg falsch. Historiker sehen ihn heute eher als ein Opfer der brutalen Umstände im Wilden Westen.

Schwester Blandina wirkte in den nächsten Jahrzehnten als unermüdliche Gründerin von Schulen und Waisenhäusern und als Fürsprecherin für Hispanics und Indianer in New Mexico. Sie starb 1941 im Alter von 91 Jahren im Mutterhaus ihres Ordens in Cincinnati. Die Briefe an ihre Schwester Justina und ihre Tagebücher über ihre Abenteuer im Wilden Westen sind erhalten. 

1932 erschien ihr Buch „Am Ende des Santa-Fe-Trails“. In den 1960er Jahren dienten Szenen da­raus der Fernsehserie „Death Valley Days“ (etwa: Tage im Tal des Todes) als Vorlage. Ihre Rettung des Freundes von „Billy the Kid“ wurde beispielsweise in der Folge „The Fastest Nun in the West“ (etwa: Die schnellste Nonne im Wilden Westen) verfilmt.

Auf dem falschen Weg

In einem der Briefe an ihre Schwester Justina schrieb Blandina über „Billy the Kid“: „Seine Augen waren blaugrau, er hatte einen rosigen Teint und machte den Eindruck eines trotzigen kleinen Jungen.“ Nicht älter als 17 Jahre habe Billy ausgesehen. „Er hätte ein guter Mensch werden können. Seine eiserne Entschlossenheit wäre ihm zu Gute gekommen auf dem richtigen Weg. Er wählte stattdessen den falschen.“ 

Und als sie von seinem Tod erfuhr, notierte sie: „Armer Billy the Kid: Da wurde das Leben eines jungen Mannes ausgelöscht, der im Alter von zwölf Jahren auf die schiefe Bahn geriet, weil er die Beleidigung seiner Mutter rächen wollte.“     

Im August 2015 stellte der emeritierte Bischof der US-Diözese Las Cruces, Ricardo Ramírez, zusammen mit Allan Sánchez eine 2000 Seiten umfassende Dokumentation vor. Sie soll den Weg für die Selig- und Heiligsprechung der in New Mexico bis heute verehrten Nonne bereiten. 

Sánchez, Leiter des Kinderkrankenhauses St. Joseph’s in Albu­querque, das Schwester Blandina einst gründete, sagte: „Es geht nicht um die Auszeichnung, es geht nicht um die Ehrung – es geht darum, unseren Gläubigen ein Vorbild zur Seite zu stellen, sie wissen zu lassen, dass sie in Schwester Blandina eine Fürsprecherin für die Gnade Gottes haben.“

Gut möglich also, dass die mutige Dienerin Gottes im Cowboy-Territorium zur nächsten Heiligen der USA wird.

Karl Horat

16.05.2018 - Heilige , Kriminalität , Orden