Kampf der Jahreszeiten

Es treibt die Pfalz den Winter aus

Auf der Haardt, dem baumreichen Bergrücken im Osten des Pfälzer Waldes, zeigen die letzten Schneereste das Ende des Winters an. Unten in Forst, dem Weindorf bei Bad Dürkheim, künden erste Mandel­blüten schon vom Sommer. Genau dort erhält der Kampf beider Jahreszeiten jährlich am vierten Fastensonntag eine besondere Gestalt: beim Hansel-Fingerhut-Spiel. Seit 2016 gehört es zum immateriellen Kulturerbe Deutschlands.

Zur Halbzeit zwischen Fastnacht und Ostern sammelt sich am Orts­eingang eine bunte Schar, die vom Winter die Nase voll hat. Versteckt im Efeu kommt der Sommer, im Strohkleid der Winter. Es sind wandelnde Naturdenkmäler, wie sie Jacob Grimm, der große deutsche Sagen- und Märchensammler, festgeschrieben hat: „Sommer und Winter stehn im Kampf gegeneinander wie Tag und Nacht; Sommer und Tag erfreuen, Nacht und Winter betrüben die Welt.“

Hänsel und Gretel

Neben Sommer und Winter, den Protagonisten des Spiels, erscheinen ein Fähnrich in Landsknecht-Uniform, ein Scherer in dunkler Festkleidung samt passendem Hut und zwei weitere Hauptdarsteller: Hansel Fingerhut und die Nudelgret. Hänsel und Gretel sozusagen, die sich mal nicht im Wald verirren, sondern mit ihrem Spiel das Dorf aufmischen.

Narr Hansel Fingerhut ist der „Star“ des Ensembles: ein Hallodri und Freund weltlicher Freuden. Kulturgeschichtlich gilt er als Helfer des Teufels. Hände und Gesicht bedeckt öliger Ruß. Doch nur Angsthasen nehmen in Forst Reißaus vor Hansel. Nur zu gern hält der große Rest die Backen hin, die er mit schwarzem Kussmund adelt. Es ist ein uralter Brauch, wie man ihn aus vielen närrischen Spielen in ganz Europa kennt, wo Schwarzmacher mit dem Publikum ihren Schabernack treiben. 

Scheinbar endlos ist die Bühne, die durch ganz Forst führende Weinstraße, auf der der Sommer den Winter gleich mehrfach zum Kampf herausfordert. „Ach, Winter“, neckt er ihn, „du bist ein arger Wicht, du machst den alten Weibern die Milch hinterm Ofen so frisch!“ – „Ach, Sommer“, schnauzt der zurück, „du bist ein arger Bauer, du machst den alten Weibern die Milch hinterm Ofen so sauer!“ Jahrhundertealte Verse sind das, die sich die beiden wie Beschwörungsformeln um die Ohren hauen. Ihre Wurzeln haben sie in der Agrargesellschaft des Mittelalters.

Verbal rüsten Winter und Sommer immer weiter auf, bis der Strohmann seinen bis dahin versteckten Säbel zückt. Als auch der grüne Mann seine Waffe auspackt, bricht der Fähnrich den Kampf ab. Im Wettstreit der Jahreszeiten tritt er in bunter Uniform als Richter auf. Kurzerhand erklärt er den Sommer zum Sieger. „Jetzt fällt mir das Herz in die Hose hinab, weil der lausige Sommer gewonnen hat“, gibt sich der Winter geschlagen. Da reicht der Sommer die Hand zur Versöhnung. 

Hansel Fingerhut ist da längst wieder auf Tour, drückt weiter seinen schwarzen Kussmund auf die Bäckchen der Frauen. Dann schlägt die Stunde des Scherers, der ihm mit einem hölzernen Rasiermesser symbolisch an den Bart geht. Es ist ein alter Initiationsbrauch, der unter Handwerkern so verbreitet war wie unter Studenten und im Mittelalter wurzelt, als man nicht nur Priestern, sondern auch Rittern zu Anfang ihrer Karriere den Bart abnahm. 

Symbolische Rasur

Auch in Forst wird Hansel Fingerhut mit der symbolischen Rasur so in die Spielgemeinschaft inte­griert. Mit einem Aderlass sucht sie gleichzeitig, seinen jugendlichen Übermut zu dämpfen. Scheinbar blutleer liegt der Weiberheld am Boden, um neue Kraft zu sammeln, die er beim nächsten Akt des Spiels braucht. Dabei hilft ihm die Nudelgret, die Dame im roten Rock mit den geflochtenen Zöpfen. Nur ein paar Bartstoppeln verraten, dass im Forster Spiel traditionell nur Platz für Männer und Burschen ist. 

Über das Alter des Spiels kann man nur spekulieren. Ganz vorsichtig sind die Forster selbst, deren Aufzeichnungen in den Gemeindebüchern bis 1721 zurückreichen. Viele Brauchdeuter aber sehen in dem Spiel Reste eines vor allem entlang des Rheins verbreiteten mittelalterlichen Kampfspiels zwischen Sommer und Winter, das im Lauf der Jahrhunderte um die eine oder andere Variante bereichert wurde. Die heutige Fassung, das ist sicher, stammt vom Forster Lehrer Otto Stang. Er fixierte den Text 1845 nach Befragung eines 80-jährigen Winzers, der einst selbst den Hansel Fingerhut gespielt hatte.

Dass sich das Spiel bis heute erhalten hat, liegt sicher auch an einer weiteren Tradition in Forst, die auf eine Stiftungsurkunde des Jahres 1600 zurückgeht. Damals hatte ein Bürger 40 Gulden gespendet, deren Verzinsung der Dorfjugend jährlich am Sonntag Laetare eine „Speisung“ garantierte. Zwar ist das Geld schon lange aufgebraucht. Noch immer aber spendet die Gemeinde den Kindern zum Festtag einen Spitzweck aus Hefeteig.

Fünfmal geht das Spiel in Forst über die Bühne, ehe die Dorfkapelle die Spielschar zum Ortsrand geleitet. Hier werden die schönsten Sommertagsstecken prämiert, mit denen vor allem die Kinder den Winter vertreiben wollen. Zum Schluss geht dieser in Flammen auf. Vorher freilich kippt man ihm noch einen Brandbeschleuniger über, damit er möglichst schnell aus Forst verschwindet. 

Günter Schenk