Vor 170 Jahren

Grundrechte für Jedermann

Den Teufel werde er tun und sich ein „Diadem aus Dreck und Letten der Revolution“ aufs Haupt setzen lassen. „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!“ Mit diesen Worten wies der preußische König Friedrich Wilhelm IV. am 3. April 1849 die Kaiserkrone ab, die ihm eine Delegation der Frank­furter Natio­nalversammlung anbot. Obwohl die Ende März verabschiedete Verfassung der Pauls­kirche und die Errichtung eines deutschen Nationalstaats durch diese Reaktion scheiterten, gilt ihr Grundrechtskatalog vereinzelt bis heute.

Nachdem es bereits 1847 im Deutschen Bund zu Hungerrevolten gekom­men war, ließ die Pariser Februarrevolu­tion 1848 den Funken des Aufstands endgültig überspringen: Beginnend im deutschen Südwesten prä­sentierten liberale und demokratische Kräfte ihre „Märzforderungen“ nach Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie Volksbe­waffnung, rechtlicher und sozialer Gleichheit, Volkssouveränität und politischer Partizipation an einem deut­schen Nationalstaat, der an Stelle des Deutschen Bundes treten sollte. 

Die Monar­chen der Mit­tel- und Kleinstaaten lenkten rasch ein und beriefen liberale Ministerien. Am 13. März 1848 hatte auch die Wiener Bevölkerung dem Polizeistaat von Fürst Metternich ein Ende be­reitet. Fünf Tage später kam es in Berlin zu Barrikadenkämpfen zwischen preußischen Truppen und Zehntausenden Bürgern. 

Friedrich Wilhelm IV. reagierte wie das Kaiserhaus in Wien: Da die Situation vielleicht militä­risch, aber niemals politisch zu gewinnen war, gab er scheinbar nach und spielte auf Zeit. Er ver­neigte sich vor den aufgebahrten „Märzgefallenen“, dann legte er sich eine schwarz-rot-goldene Schärpe um und versprach seinen staunenden Un­tertanen, sich an die Spitze der Reform- und Einigungsbewegung zu stellen: „Preußen geht fortan in Deutschland auf.“ 

Am 18. Mai 1848 trat in Frankfurt am Main die erste freigewählte gesamtdeutsche Nationalversammlung zusammen. Die evangelische Gemeinde hatte großzügig die Pauls­kirche zur Verfügung gestellt. Die Nationalversammlung erwies sich als redseliges Honoratiorenparlament der Professoren, Lehrer und Juristen: Unter den Abgeordneten fanden sich keine Arbeiter, nur vier Handwerker und ein Bauer. 

Turbulente Beratungen

Zu den prominenteren Mitgliedern zählten der Märchensammler Jacob Grimm, „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn sowie Heinrich von Gagern und Eduard Simson, die während der Verfassungsberatungen nacheinander als Parla­mentspräsidenten amtierten. Rasch bildeten sich die ersten Fraktionen, kurioserweise benannt nach den bevorzugten Gaststätten der Abgeordneten. Nicht nur in den Lokalen, auch in der Paulskirche selbst ging es turbu­lent zu. Redner wurden mit häufigen Zwischenrufen konfrontiert, auch von der Besuchertribüne für 2000 Zuschauer. 

Am 24. Mai 1848 konstituierte sich der 30-köpfige Verfassungsausschuss, in dem die Staatsrechts­experten aus dem liberalen Südwesten den Ton angaben. Viel zu viel Zeit verschlangen die Diskussionen über die Grundrechte als Konkretisierung der Märzforderungen: Jener Grundrechtskatalog sollte wie ein Katalysator der nationalen Einheit in allen Einzelstaaten gleiche Lebensverhältnisse garantieren und überall die Staatsmacht auf ein modernes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit verpflichten. 

Für alle Deutschen sollte die Gleichheit vor dem Gesetz gelten bis hin zur Steuergleichheit und Wehrpflicht: Standesunterschiede, Feudalrechte und Adelsprivilegien wurden abgeschafft. Nach Jahrzehnten politischer Repression wich die Zensur nun der Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinsfreiheit wurden ebenso garantiert wie die Religionsfreiheit und das Postgeheimnis. 

Die Freiheit der Person durfte nur durch richterlichen Haftbefehl eingeschränkt werden. Barbarische Strafen wie Pranger oder Züchtigungen wurden abgeschafft, ebenso die Todesstrafe. Für die nichtdeutschen Bevölkerungen in Österreich war ein fortschrittlicher Minderheitenschutz vorgesehen. Der Verfassungsausschuss legte bereits im Juni 1848 dem Plenum einen Grundrechteentwurf vor. Doch dann ging kostbare Zeit durch Debatten über zweitrangige Streitfragen verloren.

Andererseits bedeutete jener Kodex einen Meilenstein in der Verfassungsgeschichte: Die philosophischen Postulate der Aufklärung und die Menschenrechtserklärungen der Revolutionen in Amerika und Frankreich verwandelte die Paulskirchenverfassung in unmittelbar geltendes Recht. Der einzelne Bürger sollte sich mit seiner Verfassungsbeschwerde direkt an ein neues Reichsgericht als Hüter der Konstitution wenden können. 

Neues „Deutsches Reich“

Auch wurden jene Grundrechte per Reichsgesetz vom 27. Dezember 1848 bereits vorab in Geltung gesetzt – doch die größeren Einzelstaaten wie Preußen, Österreich oder Bayern lehnten dieses Gesetz ab.Und nach dem Sieg der Gegenrevolution erklärten die Fürsten 1851 jenen Grundrechtskatalog für ungültig. Gemäß Paragraf 1 der Verfassung sollte aus dem Gebiet des Deutschen Bundes ein neues „Deutsches Reich“ als Bundesstaat entstehen – die Frage war nur, ob mit oder ohne den Vielvölkerstaat Österreich? 

Für die „kleindeutsche“ Variante unter der Hegemonie Preußens stritten vor allem die norddeutschen Protestanten. Für einen „großdeutschen“ Gesamtstaat traten einerseits die vorwiegend katholischen Süddeutschen und Österreicher, andererseits aber auch die Linken ein. Doch sollte dann Österreich aufgeteilt werden in einen deutschen und einen außerdeutschen Teil? 

Die Paulskirchenverfassung sah ein modernes Kontrollsystem der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung vor: Der Reichstag als Nationalparlament sollte nach amerikanischem Vorbild aus zwei Kammern bestehen, dem Staatenhaus als Repräsentation der Regierungen und Landtage der Einzelstaaten sowie dem Volkshaus. In geradezu revolutionär demokratischer Manier sollten die Abgeordneten für das Volkshaus, vergleichbar mit demheutigen Bundestag, nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht bestellt werden – allerdings nur für Männer. 

Die Dauer der Legislaturperiode sollte beim ersten Mal vier und danach drei Jahre betragen. Die Abgeordneten hätten Immunität genossen und bereits damals Diäten bezogen. Ein Gesetz des Reichstages benötigte die Zustimmung beider Häuser, die Reichsregierung konnte dagegen lediglich ein aufschiebendes Veto einlegen und hätte de facto nicht ohne dauerhafte stabile Mehrheiten arbeiten können. Reichsgesetze sollten unter anderem für eine Vereinheitlichung des Eisenbahnwesens, der Post und der Zölle sorgen. Erstmals wurde auch der Grundsatz eingeführt: Reichsrecht bricht Landesrecht. 

Seit Juni 1848 gab es eine provisorische Zentralgewalt an der Staatsspitze: Anfangs wurde eine skurrile „Drei Onkel“-Lösung erwogen, ein Direktorium aus den Onkeln der Monarchen Preußens, Bayerns und Österreichs. Schließlich wurde der volkstümliche Erzherzog Johann, einst Unterstützer Andreas Hofers und Erzfeind Metternichs, zum „Reichsverweser“ gewählt. 

Letztendlich sollte an der Spitze des Reichs jedoch ein neues Kaisertum etabliert werden. Die kaiserlichen Rechtsakte sollten aber erst Gültigkeit erlangen durch die Gegenzeichnung eines Reichsministers, der dadurch die Verantwortung gegenüber dem Parlament übernahm. Die heiß debattierten Alternativen lauteten: Wahlmonarchie oder Erbkaisertum? Hohenzoller oder Habsburger? Dann schufen letztere jedoch neue Fakten. 

Nach Unruhen in Wien brachten im Oktober 1848 die Truppen von Feldmarschall Alfred I. Fürst zu Windisch-Graetz die Hauptstadt wieder unter Kon­trolle. Im Dezember 1848 löste der erst 18-jährige Franz Joseph I. (der spätere Gatte von „Sissi“) den führungsschwachen Ferdinand I. als österreichischer Kaiser ab und drängte die Revolution mit eiserner Faust zurück. Die „großdeutsche“ Variante war damit gestorben, als Kaiserkandidat blieb nur noch der Preuße.

Am 27. März 1849 wurde die Paulskirchenverfassung angenommen. Über die einzelnen Paragrafen wurde separat abgestimmt. Insbesondere die Klausel zum Erbkaisertum ging nur mit haarscharfer Mehrheit von 267 zu 263 Stimmen durch, dank eines Abkommens zwischen liberalen Royalisten und linken Demokraten, die im Gegenzug das allgemeine Wahlrecht und andere demokratische Konzessionen erhielten. 

Gegenrevolution

Nach einem Lernprozess von wenigen Monaten hatten es die Volksvertreter geschafft, Koa­litionen zu schmieden und Kompromisse auszuhandeln und eine für ihre Zeit bemerkenswert fortschrittliche Verfassung zu erarbeiten. Die Bevölkerung reagierte mit Enthusias­mus, und 30 kleinere Einzelstaaten nahmen die neue Konstitution sogar an. Abgelehnt wurde sie aber von den Mittelstaaten und vor allem vom preußischen König, der längst die Gegenrevolution eingeleitet hatte. Nachdem Friedrich Wilhelm IV. die Delegierten der „Kaiserdeputation“ zurückgewiesen hatte, kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

Viele Abgeordnete der Nationalversammlung legten resigniert ihr Mandat nieder, ein Rumpfparlament floh von Frankfurt nach Stuttgart und wurde dort mit Waffen­gewalt aufgelöst. Forderungen nach Anerkennung der Paulskirchenverfassung führten zu Aufständen in Sachsen, der bayerischen Pfalz, Baden, Westfalen und im Rheinland, die von preußischen Truppen und ihren Verbündeten niedergeschlagen wurden. 

Doch obgleich die Revolution gescheitert war, wagten nicht einmal die reaktionärsten Kräfte, das Rad der Zeit komplett zurückzudrehen: So beeinflusste die Pauls­kirchenverfassung die Bismarcksche Reichsverfassung, später die Weimarer Verfassung und sogar die Beratungen zum Grundgesetz. Die Arbeit der Frank­furter Nationalversammlung zählt zu den Fundamenten des heutigen Demokra­tieverständnisses.

Michael Schmid

25.03.2019 - Deutschland , Historisches , Politik