100 Kilometer Flusstour

Im Kanu von Kirche zu Kirche

Eine Sommerwoche stromabwärts paddeln auf der Loire von Decize nach Cosne-Cours-sur-Loire. Das ist kein Selbstläufer, sondern eine gut 100 Kilometer lange Herausforderung – und führt von Kirche zu Kirche.

Die Loire: Beim Gedanken an sie kommen vielen gleich manch berühmte Traumschlösser am Ufer in den Sinn. Dass sie ohne derlei Prachtanlagen auskommt, zeigt sich im Südwesten und Westen des Burgund. Für Kanuten öffnet sich hier ein Paradies unter den Weitwanderflüssen Europas. Stationen an unterschiedlichsten Kirchen bereichern während des Wasserwegs.

Aufbruch in der Provinz

Erster Tag. Startpunkt ist De­cize, auf einer Felseninsel in der Loire gelegen. Der provinziellen Bescheidenheit entspricht die Kirche Saint-Aré, benannt nach einem heiligen Bischof aus Nevers, der im sechsten Jahrhundert tätig war; der Namensgeber ist außen als Mosaik in einer Mandorla verewigt. 

Am Spätmittag geht es los, 14 Kilometer. Eine Trage- und Schiebepassage hält erste Tücken bereit. Ein Kuhreiher ist in Sicht, Schmetterlinge tanzen über die Gräser am Ufer. Gegenwind zieht auf, fegt durch die Bäume. Schwäne steigen schwerfällig auf. Ihre Flügel klingen wie Peitschenschläge auf dem Wasser. Charakteristisch sind Sandbänke, Auenwälder, steile Uferböschungen. Der Fluss beschreibt lange Schleifen, fast kontinuierlich sieht man seinen Grund.

Gewöhnungsschmerzen stellen sich ein: Hinterteil, Hände, Oberarme, Rücken. Es gilt, den Rhythmus zu finden. Doch für heute ist am frühen Abend auf einer einsamen Sandbank Schluss. Was keineswegs Feierabend bedeutet. Kanus hochziehen und umstülpen, Zelte aufbauen, Feuer machen, Essen vorbereiten, spülen. Es sind viele Handgriffe. Erschöpft fällt man nach Sonnenuntergang ins Himmelsbett, sprich: Isomatte und Schlafsack. 

Zweiter Tag. Über dem Flusslauf liegt Morgendunst. Glockengeläut verrät ein nahes Dorf. Zum Frühstück gibt es Knäckebrot, Marmelade, Wurstkonserven, Kaffee, Müsli. Tagesziel ist Nevers, 19 Kilometer entfernt. Das Hellbraun des Flusses verschmilzt mit dem Grün von Bäumen und Sträuchern, dem Himmelblau. Das Flachwasser hat den Vorteil, dass es nicht für Motorboote befahrbar ist. Ausflügler haben am Ufer ihre Handtücher ausgebreitet, Angler stehen im Wasser. 

In Nevers gibt der Campingplatz Quartier. Der Gang über die Loire-­Brücke führt ins stimmungsvolle Städtchen. Die auf den Ruinen einer Kapelle aus dem Frühmittelalter erbaute Kathedrale Saint-Cyr-et-­Sainte-Julitte besticht durch ihre modernen Buntglasfenster und die Krypta, wo eine polychromierte Skulpturengruppe aus dem 16. Jahrhundert die Grablegung Christi thematisiert. 

Zu Fuß geht es weiter durch die Kleinstadt zu einer ganz besonderen Grabstätte. In der Kapelle des Espace Bernadette ruhen in einem Glassarkophag die sterblichen Überreste der heiligen Bernadette. Ein gespenstischer Anblick. Vor dem Grab duften Blumen. 1858 hatte sie als 14-Jährige in Lourdes die legendären Marienerscheinungen, die eines der weltweit bekanntesten Wallfahrtsziele nach sich zogen. 

Unversehrter Leib

Als junge Frau trat Bernadette in den Orden der Caritas-Schwestern von Nevers ein. Dort starb sie 1879, mit nur 25 Jahren. Auf Deutsch ist zu lesen: „Der Leib der heiligen Bernadette ruht in dieser Kapelle seit dem 3. August 1925, er ist unversehrt, Gesicht und Hände sind mit einer leichten Wachsschicht überdeckt.“ Der Kopf ist leicht nach links geneigt, liegt auf einem großen hellen Ruhekissen. Denise, eine von 

vier Schwestern, hat gerade Dienst als Wächterin und Ansprechpartnerin. Trotz offiziellen Fotoverbots genehmigt sie großherzig ein Erinnerungsbild vom Grab.

Dritter Tag. Der Besuch des Es­pace Bernadette wirkt lange nach auf der heutigen 17-Kilometer-Etappe. Güte und eine tiefe Zufriedenheit sprachen aus dem Ausdruck der Heiligen. Durch den Kopf geht ein Zitat, das dort, gemünzt auf sie, zu lesen war: „Sie ist da, als Zeichen, als Zeugin der besonderen Liebe Gottes zu denen, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind und von der Welt unbeachtet bleiben. Sie sagt beständig zu uns: Gott ist Liebe.“ 

Die Kanutour auf der Loire entschleunigt bei vier bis fünf Kilometern pro Stunde. Der Fluss ist ein Lehrstück in Sachen Natur, Ruhe und Leben im Einklang mit der Schöpfung. Stille als Balsam für die Seele. Flussseeschwalben vollführen Sturzflugmanöver, Graureiher warten auf Beute. Eine Pause im Dorf Fourchambault gibt Gelegenheit, zum Portal der Kirche Saint-Gabriel hinüberzugehen; im Bogenfeld blickt man auf Löwe und Adler unterhalb des Pantokrators. Am Abend ist der Grad der Erschöpfung gleichbleibend hoch. Der Schlaf im Ufercamp kommt wie ein guter Freund.

Vierter Tag. Der Blick schärft sich für die kleinen Dinge des Lebens. Brombeerranken, Libellentänze, eine Raupe, Spinnennetze, die Maserungen von Blättern im Gegenlicht. Wie im wahren Leben sucht man auch auf der Loire die Ideal­linie. 

Im Dorf La Marche zieht das Kirchlein Saint-Martin die Blicke auf sich, eines von vielen in Frankreich, das dem heiligen Martin von Tours geweiht ist. An der Kirchenmauer zur Straße hin sind Kübel mit blühenden Blumen aufgehängt, neben dem Gotteshaus die Wiesenzonen säuberlich gemäht. Nahebei zeigen Illustrationen in einer öffentlichen Aushangtafel, wie man sich im Fall eines terroristischen Angriffs zu verhalten hat – ein französisches Trauma der Gegenwart.

Schier endlos ist die Abfolge der Sandbänke, Dickichte und Auenwälder, bis die Ausläufer von La Charité-sur-Loire in Sicht geraten. Die intensive Erkundung steht morgen an, dann ist wohlverdienter Ruhetag.

Romanischer Prunkbau

Fünfter Tag. Jakobspilgern ist La Charité-sur-Loire als historische Station ein Begriff. Der Aufstieg begann im elften Jahrhundert mit der Errichtung eines Priorats durch die Abtei von Cluny. Die 120 Meter lange Kirche war ein Prunkbau der Romanik. Nach einer Feuersbrunst 1559 erfolgte der Wiederaufbau. Die alte Klosterkirche beeindruckt auf ihre Art. Buntglasfenster zaubern Lichtspiele auf den Boden. Im Außenbereich hat sich das Tympanon der heiligen Jungfrau Maria aus der Ursprungszeit erhalten. Auf dem Platz davor gibt man sich auf Restaurantterrassen dem Savoir-vivre hin.

Sechster Tag. Die Königsetappe, 22 Kilometer. Bald beginnt das Naturschutzgebiet Val de Loire, das zerfasert ist von Alt- und Nebenarmen. Die Loire verbreitert sich wie ein See, dann zieht sie sich wieder zusammen. Um Pouilly-sur-Loire steigen Weinberge an, dominant ist der Spitzturm der Kirche. Treibholzstücke auf einer Insel wirken wie ein riesiges Mikadospiel. Der Paddeltag endet mit Tomatensalat, Nudeln und Sternenglanz über den Zelten.

Siebter Tag. Die letzten zehn Kilometer verfliegen. Felsen liegen tückisch nah unter der Wasseroberfläche. Cosne-Cours-sur-Loire taucht auf, die Endstation. Der Ortskern versprüht Charme. Die spätgotische Jakobskirche setzt den sakralen Schlusspunkt. Moosbelag überzieht das steil abfallende Dach, im Innern haben Gläubige unter einer Madonna mit ihrem Kind Votiv­gaben hinterlassen. Ein guter Platz, um „Danke“ für die herrliche Kanuwoche zu sagen.

Andreas Drouve

20.08.2019 - Ausland , Kirchen , Reise