International umstritten

Blutvergießen statt Hoffnung?

Am Abend des 4. November 1995: Im Bus nach Tel Aviv traf Yigal Amir, der wenige Stunden später Israels Premierminister Jitzchak Rabin erschießen würde, „einen jungen rechten Aktivisten. Dieser erzählte ihm, jemand von der faschistischen Kach-Bewegung beabsichtige, am gleichen Abend ein Attentat auf Rabin zu verüben. (…) Die Rede war von Itamar Ben-Gvir.“

So schildert der 2009 verstorbene israelische Journalist Amnon Kapeliuk in „Rabin – ein politischer Mord“ den Abend, der Israel in seinen Grundfesten erschütterte. Das Buch ist aktueller denn je:  Ben-Gvir, wegen Unterstützung einer Terrorgruppe, Rassismus und Hetze mehrfach vorbestraft, ist nun Israels Minister für Nationale Sicherheit und damit für Polizei und Grenzpolizei zuständig. 

Kaum im Amt, stieg der radikale Siedler trotz Warnungen der Hamas auf den Tempelberg und hielt sich 13 Minuten auf dem für Juden und Muslime gleichermaßen heiligen Ort auf – gerade für Letztere eine Provokation sondergleichen. Kapeliuks Buch schildert, wes Geistes Kind Ben-Gvir ist. Und welche Mitschuld die national-religiöse Siedlerbewegung am Tod Rabins trägt.

10 000 Tote seit 1995

„Die Zukunft wird zeigen, welchen Preis wir für diesen politischen Mord noch werden zahlen müssen“, lautet der Schlusssatz des Buches, das erstmals 1996 erschien. Seit Rabins Tod sind im Heiligen Land durch Gewalt, Terror und Gegenterror rund 10 000 Menschen ums Leben gekommen: etwa siebenmal so viele Palästinenser wie Israelis. 

Ende Dezember, vor einem Monat, wurde die sechste Regierung unter Führung Benjamin Netanjahus vereidigt. Nach anderthalb Jahren ist der 73-Jährige zurück an der Macht. Seine rechte Sechs-Parteien-Koalition aus Nationalkonservativen, ultrareligiösen Zionisten und Ultraorthodoxen verfügt mit 64 von 120 Sitzen in der Knesset über eine für israelische Verhältnisse komfortable Mehrheit.

Noch während der Koalitionsverhandlungen veröffentlichten Patriarchen und Erzbischöfe der 13 in Jerusalem anerkannten Kirchen ihre gemeinsame Weihnachtsbotschaft, die man durchaus als Stellungnahme zur Regierungsbildung verstehen konnte. „Zunehmende Angriffe auf freie Religionsausübung sowie Christen selbst, Entehrung ihrer Kirchen und Friedhöfe und juristische Drohungen“ trügen zu einer „entmutigenden Atmosphäre“ bei, hieß es. Diese führten zu einem „Hoffnungsmangel, vor allem unter jungen Christen“.

Warnungen kommen auch von vielen Friedens- und Menschenrechtsgruppen in Israel, Palästina und den USA. Die Organsation „Ir Amim“ (Stadt der Völker) etwa, die sich für Gleichberechtigung von Juden und Palästinensern in Jerusalem einsetzt, nennt das neue Kabinett „ultrarechts“ und „extremistisch“. Jene, die „die israelische Demokratie und Menschenrechte überwachen, sind in Gefahr. Wir erwarten weitere Unterdrückung und Verstöße gegen die Rechte der Palästinenser in Ost-Jerusalem.“ 

Beth Schuman, Direktorin der US-amerikanischen Freunde der israelisch-palästinensischen „Combatants for Peace“ (Kämpfer für den Frieden) wählt noch drastischere Worte: Die Regierung sei die „radikalste Rechtsregierung in der Geschichte des Landes, rabiat, faschistisch, rassistisch, sexistisch, homophob.“ Sie habe, sagt Schumann, Angst um „meine Cousinen in Israel und den Freundeskreis in Palästina. Der Kampf für Menschenrechte war noch nie so wichtig.“ 

Alarmglocken schrillen

Bei der israelischen Friedensorganisation „Shalom achshav“ (Frieden jetzt) schrillen gleichfalls die Alarmglocken. Der Grund: Der radikale Siedler Bezalel Smotrich wurde nicht nur Finanzminister, sondern leitet auch das dem Verteidigungsminister unterstellte Ressort für Siedlungsbelange. Damit werde die „Vision der jüdischen Vorherrschaft“ vorangetrieben und „das Siedlungsunternehmen ausgebaut und Enteignung und Unterdrückung der Palästinenser zunehmen“. 

Mehrere israelische Analysten und Kommentatoren fragen sich bereits seit der Wahl Anfang November, ob Israels Demokratie nun womöglich am Ende sei und das Land auf eine jüdische Theokratie zusteue­re. Der Autor und Friedensaktivist David Grossman schrieb in der Frankfurter Allgemeinen unter der Überschrift „Im Zugriff des Chaos“, dass die „Regierung alles zunichtemachen wird, was ich mir für mein Land erträumt habe“. 

Auch im Volk brodelt es. Mehr als 100 000 Menschen haben am vergangenen Sabbat in Tel Aviv gegen die neue Regierung protestiert. Es war der dritte Protest-Samstag in Folge. Auch in Jerusalem, Haifa und Be’er Scheva demonstrierten Tausende – vor allem gegen die Absicht von Justizminister Yariv Levin. Der Politiker von Netanjahus Likud-Partei will es dem Parlament ermöglichen, Gesetze zu verabschieden, die laut Oberstem Gerichtshof gegen die Verfassung verstoßen.

Georg Stein, Verleger des Heidelberger Palmyra-Verlags, der sich auf den israelisch-palästinensischen Konflikt spezialisiert hat, ist gerade von einer sechswöchigen Recherchereise zurückgekommen. Über 50 Gespräche hat er sowohl mit jüdischen Israelis als auch mit Palästinensern geführt: mit Journalisten und Soziologen, Friedens- und Menschenrechtsaktivisten und Leitern sozialer oder medizinischer Einrichtungen. 

„Es gibt keine Hoffnung“ – diesen Satz habe er noch nie so oft gehört wie jetzt, sagt Stein im Gespräch mit unserer Zeitung. Manch ein Palästinenser, mit dem er sprach, prognostizierte gar noch Schlimmeres: „Es wird sehr blutig werden.“

Johannes Zang

27.01.2023 - Israel , Judentum , Palästina