Covid-19 in Brasilien

Mal harmlos, mal Strafe Gottes

Brasilien entwickelt sich immer mehr zum Epizentrum der weltweiten Corona-Pandemie. Wissenschaftler befürchten, dass bereits mehr als eine Million Brasilianer infiziert sein könnte. Mitverantwortlich dafür dürfte die Haltung von Präsident Jair Bolsonaro und einflussreicher evangelikaler Sekten sein. Sie lehnen Maßnahmen gegen die Pandemie ab.

Wie Bolsonaro, der schnell zur Normalität zurückkehren will, halten es die Freikirchen für unnötig, auf Abstand zu achten. Die große Mehrheit der Gouverneure der Bundesstaaten ist anderer Meinung. In ihren Staaten setzen sie Ausgangs- und Kontaktsperren durch. So bleiben auch die Tempel der Freikirchen leer. Aus den leeren Hallen wenden sich die Prediger via Video und Internet an ihre Gemeinde. Einen „Angriff der Behörden“ meint Freikirchengründer Valdemiro Santiago zu erkennen.

Auch Silas Mala-faia, der Gründer der „Assembleia de Deus Vitória em Cristo“ (etwa: Versammlung Gottes zum Sieg in Christus), der als religiöser Guru von Präsident Bolsonaro gilt, kritisiert den „Shutdown“ scharf. „Wird das Coronavirus Menschen töten?“, fragt Malafaia. „Ja. Aber wenn es soziales Chaos gibt, dann sterben noch mehr. Und die Kirchen sind nun einmal essenziell für die Menschen, die verzweifelt, voller Angst und depressiv sind und in keinem Krankenhaus aufgenommen werden.“

Auch der Führer der drittgrößten Freikirche Brasiliens, der Ex-Abgeordnete Mário de Oliveira, jetzt Reverend der „Igreja do Evangelho Quadrangular“, ist Bolsonaro-Unterstützer. Seine Vereinigung hat vor allem im Bundesstaat Minas Gerais und im Süden des Landes ihre Anhänger. Die Quadrangular-Kirche stammt ursprünglich aus Kalifornien und wurde dort 1923 von Aimée Semple McPherson gegründet.

Shows mit „Glaubensheilungen“, wie sie „Sister Aimee“ in Los Angeles veranstaltete, wurden auch in Brasilien zum durchschlagenden Erfolg. Landesweit hat die Freikirche nach eigenen Angaben heute mehr als 11 000 Gebets- und Versammlungsstätten. Einzelne ihrer Kirchen in Minas Gerais, die trotz der Ansteckungsgefahr offenbleiben sollten, wurden Ende März von der Militärpolizei abgeriegelt.

Vermeintliche Lösung

Die „Igreja Renascer em Cristo“ (etwa: Kirche der Wiedergeburt in Christus) stellt die Pandemie indes als Strafe Gottes dar. Der international aktiven Megakirche gehören rund zwei Millionen Gläubige an. Allein in Brasilien nennt sie 1500 Gotteshäuser ihr Eigen. Das Pastoren-Ehepaar Sônia und Estevam Hernandes, das die Kirche 1986 in São Paulo gründete, hat für Corona biblische Vergleiche und eine vermeintliche Lösung parat. 

In ihren Videos ziehen die beiden Prediger eine Parallele zu Kapitel 12 des Buchs Exodus. Darin ist beschrieben, wie vor dem Auszug der Israeliten aus Ägypten der Racheengel durch die Stadt zog, um alle Erstgeborenen zu töten. Nur die Jahwe-Gläubigen, die ein männliches Opferlamm geschlachtet und dessen Blut an die Türpfosten des Hauses gestrichen hatten, wurden verschont. Statt einer blutigen Markierung setzt das Pastorenpaar auf ein finanzielles Opfer: Wer 300 Real (etwa 50 Euro) an „Renascer em Cristo“ zahlt, dessen Haus bleibe von der Pandemie verschont.

Francisco Borba Ribeiro Neto, Professor an der katholischen Universität von São Paulo, erklärte, dass für ihn die Verharmlosung des Virus in evangelikalen Kreisen eine gewisse Folgerichtigkeit habe: Bolsonaro repräsentiere eine Art „Fundamentalismus der Außenseiter“. Angesprochen fühlten sich von dessen rigiden Auffassungen Bevölkerungsgruppen, die sich an traditionellen Werten orientieren.

Angesichts der derzeitigen ökonomischen Entwicklungen fühlten sich die Menschen ausgeschlossen und an den Rand gedrängt. Dazu gehöre ein passendes Feindbild.

„Der Fundamentalist sieht die Welt voller Gefahren und versteckter Feinde. Die strenge Einhaltung von Normen und Doktrinen ist seine einzige Rettung vor dem Bösen. Die Pandemie verstärkt dieses furchteinflößende Bild der heutigen Welt noch.“

Für Borba Neto gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Ablehnung der Kontaktsperre und der Verneinung von Gefahren durch den Klimawandel. Beide bedrohen die Wirtschaft und ihr Wachstum in der bisherigen, traditionellen Form, argumentiert der Soziologe. Dabei gehe es letztlich gar nicht um die Wirtschaft, sondern darum, sich vom Gegner abzugrenzen – „ihn als ideologische Vogelscheuche darzustellen, als gefährlich und lächerlich zugleich“.

Zu Millionären geworden

Die zu vielfachen Millionären gewordenen Sekten-Führer wie Santiago, Malafaia, Oliveira, Edir Macedo oder das Ehepaar Hernandes agieren aus purem Geschäftssinn ähnlich wie Unternehmer, die sich gegen die Schließungen ihrer Betriebe aussprechen. Ihre Beziehung zu Bolsonaro ähnelt der vieler Geschäftsmänner: Sie sind eine Art Unternehmer des Glaubens, Händler mit einem Heilsversprechen, die genau wie andere Unternehmer die eigenen Interessen verteidigen. Geschlossene Kirchen bedeuten: keine Einnahmen im Klingelbeutel.

Brasiliens Evangelikale sind vorwiegend im rechten ideologischen Spektrum anzutreffen. Die Führer der einfluss-reichsten Megakirchen wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu gewichtigen Wirtschaftsleuten, die sich direkt oder indirekt politisch betätigen. Das bedeutet eine Machtkonzentration über ihr gesellschaftliches Milieu hinaus: Der rechte Flügel in Bolsonaros Kabinett ist von der Überzeugung getrieben, in einem Kulturkampf gegen Kräfte zu stehen, die das Christentum bedrohen.

Unter Jair Bolsonaro ist die Grenze zwischen Politik und Religion durchlässiger geworden. Bereits als Präsidentschaftskandidat profitierte Bolsonaro von der Unterstützung eines Großteils der evangelikalen Wählerschaft. Zum Dank nahm er als erster Präsident Brasiliens im August vorigen Jahres am „Marsch für Jesus“ in Brasília und São Paulo teil. Diese evangelikale Massenveranstaltung, die seit 1993 in verschiedenen brasilianischen Städten stattfindet, wird vom Rat Evangelikaler Pastoren in Brasília ausgerichtet. 

Die Kundgebung stand unter dem Motto „Zusammen marschieren wir für die Familie und für Brasilien“. Unter Verweis auf die Bibel vertrat der Präsident in seiner Rede das Ideal der traditionellen Familie. Sein Wahlerfolg, mutmaßte er, sei „praktisch ein Wunder“, zu dem die evangelikalen Pastoren entscheidend beigetragen hätten.

Wie US-Präsident Donald Trump ist auch Bolsonaro schnell dabei, wenn es um die Verharmlosung der Corona-Pandemie geht, um das Bejubeln möglicher Gegenmittel oder um Verschwörungstheorien wie jener, die Pandemie sei ein Angriff Chi-nas auf die westliche Welt. Immerhin propagiert er mittlerweile nicht mehr das Malariamedikament Chloroquin als Mittel gegen Covid-19: Das Präparat führte bei zahlreichen Patienten in São Paulos Intensivstationen zum Herztod.

Momentan steigt die Kurve der Todeszahlen wegen Covid-19 in den brasilianischen Ballungszentren steil an. Die wütenden Bolsonaro-Gegner, die nun wohl 60 Prozent der Menschen im Land ausmachen, stehen jeden Abend zur Zeit der Nachrichtensendung „Jornal Nacional“ mit Pfannen und Topfdeckeln an den Fenstern, machen einen Heidenlärm und brüllen alle erdenklichen Schandnamen für ihren Präsidenten.

Die Alten kosten nur

Der Protest erhält immer mehr Zulauf, seit „Bozo“ seinen Gesundheitsminister Henrique Mandetta feuerte. Dessen Nachfolger Nelson Teich verkündete, wenn nun die Betagten infolge der Pandemie wegstürben, sei das für den Staatshaushalt gar nicht schlecht – sie würden ja nur kosten. Nach dieser Aussage konnte er sich im Internet tausendfacher Verwünschungen sicher sein.

Noch schwerer für den Präsidenten könnte der Amtsverzicht seines Justizministers wiegen. Sergio Moro trat zurück, nachdem Bolsonaro den von Moro ernannten Chef der Bundespolizei entlassen hatte. Der Präsident wolle die Unabhängigkeit der Ermittler beenden, beklagte Moro. Die Ernennung eines Bolsonaro-Vertrauten zum Polizeichef scheiterte am Obersten Gericht.

Ein Großteil des Millionenheers der Menschen, die durch den „Shutdown“ arbeitslos wurden, hatte im informellen Sektor gearbeitet: als Tagelöhner, Hausangestellte, Putzkraft oder Hilfsarbeiter. Diese Menschen stehen nun ohne Einkommen auf der Straße. Die meisten von ihnen sind nicht in der Lage, sich via Internet durch den Datenparcours zu kämpfen, um an Unterstützungs-Nothilfe der Regierung zu kommen. Sie haben meist nicht einmal ein Bankkonto, was dafür Voraussetzung wäre.

Karl Horat

08.05.2020 - Ausland , Corona , Politik