Aus Verzweiflung in die USA

„Mein Leben ist dort“

Die USA bilden in den Augen vieler Menschen aus Honduras, El Salvador und Guatemala den einzigen Ausweg aus der Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Armut ihrer Heimatländer. Für etwas Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder schließen sie sich in großen Gruppen zusammen und nehmen zu Fuß gefährliche Strecken auf sich. Die kirchliche Institu­tion „Casa del Migrante“ in Guate­mala versucht, den Erschöpften zu helfen.

Als sich Ende 2018 große Gruppen von Migranten in Honduras zu Karawanen zusammenschlossen, weckte das die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. In den USA warnte Präsident Donald Trump vor einer großen Gefahr für sein Land. Tatsache aber ist, dass die Zahl der illegalen Einwanderer, die in die USA gelangen, in den letzten zehn Jahren stetig gesunken ist. 

Schon lange ziehen Menschen aus Mittelamerika nach Norden. Neu ist, dass sie sich zu sehr großen Gruppen zusammenschließen, um gemeinsam durch Mexiko zu wandern. Längst haben sich weitere Karawanen aus den Ländern Honduras, El Salvador und Guatemala auf den Weg gemacht.

Eine schmale Straße im alten Zentrum von Guatemala-Stadt. Rund 200 Menschen sitzen auf dem Bürgersteig vor dem „Haus des Migranten“. Seit 25 Jahren steht die kirchliche Institution reisenden Menschen bei, die eine Pause und etwas Stärkung brauchen. Die ersten Migranten der Karawane sind schon vor Stunden in der guatemaltekische Hauptstadt angekommen. 

Für die Nacht verteilen sie sich auf verschiedene Lagerstätten. Das klappt gut, obwohl diesmal keine Männer mit Megafonen Ansagen machen, so wie bei den ersten beiden Karawanen. Die einzelnen Gruppen stehen jetzt über Smartphones in Kontakt mit Freunden oder Angehörigen, die dieselbe Strecke schon hinter sich haben. Sie geben Tipps für Reiserouten und Übernachtungsmöglichkeiten. 

Viele Mütter und Kinder

Diesmal sind besonders viele Mütter mit Kindern zum „Haus des Migranten“ gekommen. Die 30-jährige Miriam ist vor drei Tagen in San Pedro Sula aufgebrochen, einer Großstadt im Osten von Honduras. „Manchmal laufen wir, manchmal nimmt uns ein Auto oder ein Lastwagen mit“, erzählt sie. „Jetzt warten wir hier vor dem ‚Haus des Migranten‘ auf Einlass für die Nacht.“

Miriams vierjährige Tochter liegt auf dem Bordstein und starrt in den wolkenlosen Himmel. Die Kleine hat noch nicht verstanden, dass bisher erst eine Etappe der sehr langen Reise hinter ihr liegt. „In Honduras gibt es keine Arbeit“, klagt ihre Mutter. „Schauen Sie, meine Haut ist sonnengebrannt, weil ich so lange durch die Straßen gelaufen bin, auf der Suche nach Arbeit, um meine Familie ernähren zu können. Natürlich macht mir die lange Reise Angst. Aber wir haben keine andere Wahl.“

Im Haus bereiten Freiwillige den Moment vor, an dem sie die Türen öffnen werden. Sie säubern Toiletten, entlausen Matratzen und schrubben Fußböden. Die Psychologin Roxana Palma steht bereit, um sich den Migranten zuzuwenden, die ein therapeutisches Gespräch brauchen. „Die Leute sind es leid, das Elend in ihren Ländern zu ertragen, das Fehlen an Möglichkeiten, die würdelosen Lebensbedingungen. Sie tun sich zusammen, weil sie nicht genug Geld haben, um einen Schlepper zu bezahlen. Sie haben verstanden, dass es weniger gefährlich ist, gemeinsam zu reisen.“

In Guatemala schließen sich trotz der Unsicherheit, ob sie ihr Ziel erreichen werden, weitere Leute der Karawane an. Der Menschenrechtsaktivist Israel Macario, Mitarbeiter des Netzwerks „Plataforma Agraria“, meint, die meisten Migranten hätten keine Alternative. 

Entweder gäben sie alles für den Versuch, in die USA zu kommen und von dort Geld nach Hause zu schicken, oder sie blieben hier, ohne Chance, dass sie eines Tages ihre Kinder gesund aufwachsen sehen. Deshalb nähmen sie das Risiko auf sich: „Sie sind sich sehr wohl bewusst, dass sie durch die Wüste gehen müssen, dass sie in die Hände der Drogenkartelle fallen können, dass sie womöglich von den Behörden deportiert werden. Und sie wissen, dass sie in den USA nicht frei leben können, dass sie sehr hart arbeiten müssen. Die Menschen wissen das alles und gehen trotzdem.“

Unterdessen haben sich vor der Tür des „Hauses des Migranten“ einige junge Frauen zusammengefunden. Schüchtern klopfen sie an. Sie bitten um Windeln für ihre Kleinkinder und ein wenig Milch. Minuten später reicht eine ältere Freiwillige zwei Pakete Plastikwindeln heraus, einen Topf heißes Wasser und eine Tüte Milchpulver. 

Der junge Mann Alberto beobachtet die Szene. Ihm wird klar, dass er die Nacht auf der Straße schlafen wird. Familien mit Kindern haben Vorrang. Danach wird für ihn kein Platz mehr sein. 

„Ich will nur arbeiten“

Alberto kennt das Leben in den USA. Er ist dort aufgewachsen, bevor ihn die Migrationsbehörde im letzten Sommer nach Guatemala deportiert hat, das Land in dem er zur Welt gekommen ist. „Ich gehe zurück in den Norden, weil ich in Guatemala nicht arbeiten kann“, sagt er. „Statt Arbeit gibt es hier gefährliche Banden. Selbst die Polizei will dein bisschen Geld haben. Das ist kein Leben. Ich will nur arbeiten. 23 Jahre lang war ich in den USA, bevor sie mich deportiert haben. Mein Leben ist dort, nicht hier.“

Alberto hat in Texas gelebt. Er weiß, wie man dort Arbeit findet. Er wird es schaffen, sich ein neues Leben aufzubauen, da ist er sich sicher: „Dort im Norden, wenn man arbeiten will, dann sagt dir jemand: ‚Du willst arbeiten? Na dann komm.‘ Da gibt es nicht diesen ganzen Kram mit Dokumenten und Nachweisen, so wie hier in Gua­temala. Außerdem verdienst du hier in der Landwirtschaft nur 800 Quetzales für zwei Wochen Arbeit. Das ist ein Monatslohn von 200 Euro. Das reicht nicht für Essen, Strom, Wasser und all das.“

Neben Alberto sitzt sein Cousin Jaime. Der kennt die USA nur aus Erzählungen und Hollywoodfilmen. Im Radio hat er gehört, dass es sehr schwer sein wird, ins Land zu kommen, solange Donald Trump Präsident ist. „Wie lange wird Donald Trump noch an der Macht sein? Zwei Jahre. Dann muss ich wohl zwei Jahre lang in Mexiko bleiben, bevor ich rüber komme. Aber wie machen das all die anderen Leute, die es rein schaffen?“

Das ist die größte Sorge der meisten Migranten: Werden sie es schaffen, die Grenze zwischen Mexiko und den USA zu überqueren? Die guatemaltekische Journalistin Michelle Mendoza berichtet: „Ich denke, zumindest einige Familien werden es schaffen. Ich weiß von Familien der ersten beiden Karawanen, die aus Chicago, New York, Los Angeles angerufen haben. Sie sagen: ‚Wir sind drin. Wir sind glücklich. Wir müssen uns verstecken, aber wir sind drin.‘“

Solche Berichte machen dem Salvadorianer Edgar Hurtado Hoffnung. Am Tag vor der Abreise hat er seinen 50. Geburtstag gefeiert. Viele seiner Jugendfreunde waren aber nicht dabei, weil sie sich schon längst nach Norden aufgemacht hatten. Er  selbst ist in El Salvador geblieben, weil er dort ein ordentliches Auskommen hatte, einen kleinen Laden. 

Doch seit Mitglieder einer Jugendbande fast wöchentlich Schutzgelder von ihm erpressen, reicht sein Verdienst nicht mehr zum Überleben. „Früher sind die Leute allein losgezogen. So geht das jedes Jahr. Sie gehen in vielen kleinen Gruppen. Jetzt sind die Gruppen größer. Aber eigentlich ist es wie immer. Seit es Menschen gibt, ziehen sie in andere Länder, auf der Suche nach neuen Horizonten.“

Andreas Boueke