Pestgelübde in Corona-Zeiten

Neuer Anlauf in Oberammergau

Der Bart ist ab, die Haare geschnitten – alles auf Anfang! Am Aschermittwoch 2019 stand Christian Stückl wie vorige Woche im Passionstheater, um den Haar- und Barterlass für die kommenden Passionsspiele zu verkünden. Die Haare wuchsen, Bärte sprossen, kurz vor Weihnachten begannen die Proben. Wenige Wochen später zogen dunkle Corona-Wolken auch über Oberammergau. 

Am 19. März, mitten in den Proben, mussten Spielleiter und Bürgermeister mit Tränen in den Augen die Spiele 2020 absagen. Der Bart konnte wieder ab, der Start der 42. Passionsspiele wurde gleich um zwei Jahre verlegt: auf Mai 2022. Folglich hat mit diesem Aschermittwoch die neuerliche Vorbereitung begonnen – voller Hoffnung zwar, aber nicht mit letzter Gewissheit. 

Der Gedanke, dass in gerade einmal 14 Monaten 800 Mitwirkende auf der Bühne und viereinhalb Tausend Zuschauer im Theater sein werden, kann den zur Zeit auf Abstand getrimmten Menschen fast utopisch erscheinen. Aber Spielleiter Chris­tian Stückl ist bibelfest: Der Glaube versetzt Berge.

Den Haar-und Barterlass, also die Vorschrift, sich für die anderthalb Jahre bis zum Ende der Spielzeit weder Haare noch Bärte zu schneiden, ist nicht ganz so alt wie das Passions­spiel. Zwischen 1634 und dem Ende des 18. Jahrhunderts erlebte die Passion immer nur jeweils drei oder vier Aufführungen. Dafür hätte es sich nicht gelohnt, sich monatelang die Haare wachsen zu lassen. Man wusste sich anders zu helfen.

Um 1700 etwa weist die Abrechnung der Gemeinde sieben Gulden an den Bader für Perücken aus. Als dann seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Zahl der Vorstellungen von rund 50 auf gut 100 in den vergangenen Jahrzehnten anwuchs, verkündeten Plakate und Ausrufer das Friseurverbot. In dieser Spielzeit hat es durch die Corona-Einschränkungen streng genommen schon zwei Monate früher gegriffen.

Die Anordnung hatte mitunter kuriose Folgen. So mokierte sich der Schriftsteller Lion Feuchtwanger 1910 bei einem Besuch in Oberammergau, im Dorf würden lauter Langhaarige herumlaufen. Und als 1950 Darsteller der Passionsspiele in einem Münchner Hotel übernachten wollten, wies man ihnen die Tür: nicht fein genug! 

Anlässlich der Passion 1970 – kurz nach Beginn der 68er-Proteste – hatten es die Jugendlichen des oberbayerischen Dorfes schwer, ihren Unmut so zu äußern, wie dies junge Leute im ganzen Land taten: durch lange Haare. In Oberammergau nämlich trugen Enkel und Opa die gleiche Frisur. Ein Dorf voller Hippies, nennt das der damals neunjährige Stückl im Rückblick.

Auf die heutige Jugend des Dorfes ist der Spielleiter besonders stolz. Viele von ihnen wollen mitspielen und werden zum Zuge kommen. Die geplante Besetzung für 2022 weist das jüngste Durchschnittsalter überhaupt auf. Neben dem Enddreißiger Frederik Mayet, der den Jesus  zum zweiten Mal spielen wird, ist der andere Christus-Darsteller Rochus Rückel erst 24. 

Für die Auswahl einer so jungen Truppe nennt Stückl auch einen inhaltlichen Grund: Die historischen Apostel waren ein eher junger Haufen – wohl kaum älter als Jesus selbst. Und so wird sich der Eindruck der Apostelschar in der Passion wohl deutlich von dem Bild unterscheiden, das ihre Statuen oder Bilder vermitteln – oder auch ein Blick in die Runde ihrer Nachfolger in der Bischofskonferenz.

Die Verantwortlichen in Oberammergau wollen die Jugend nicht nur auf der Bühne sehen, sondern auch im Zuschauerraum. Dem dienen die 2022 erstmals angebotenen Jugendtage eine Woche vor der Premiere. Man erwarte, heißt es, bis zu 9000 junge Leute zwischen 16 und 28 Jahren. Sie sollen mit der Welt der Passionsspiele vertraut gemacht werden. 

Die jungen Besucher haben die Möglichkeit, sich mit den Darstellern über die gelebte Tradition sowie kulturelle und religiöse Aspekte des Spiels auszutauschen. Die Zwei- und Drei-Tagespakete, die die Eintrittskarte sowie eine Übernachtung mit Frühstück beinhalten, kosten zwischen 31 und 92 Euro.

Zeitgemäße Botschaft

Christian Stückl, im Hauptberuf Intendant des Münchner Volksthea­ters, bringt die Passion zum vierten Mal auf die Bühne. Seit über 30 Jahren feilt er an den Texten und überlegt, wie er Christus und seine Botschaft zeitgemäß vermitteln kann: „Wir müssen die Geschichte von Jesus hochhalten, auf die Kirche hört bald keiner mehr“, befürchtet er. 

Im Spiel will Stückl sich weniger den großen theologischen Fragen widmen, sondern einen Jesus zeigen, der an die Ränder der Gesellschaft geht, ein Freund der Zöllner und Huren. Trotz seiner fast 400 Jahre andauernden Tradition müsse das Passionsspiel auf die Fragen der heutigen Zeit reagieren, sagt der Regisseur. Die Kluft in der Gesellschaft wachse. Dem setzt er das Wort Jesu entgegen: Weh euch, ihr Reichen, selig die Armen. 

Die Passionsspiele sind ein aufwendiges Projekt. Allein die Verschiebung belastet die Gemeindekasse mit neun Millionen Euro. Die Hotellerie hoffe auf Kredite im Blick auf die Einnahmen im nächsten Jahr, sagt Bürgermeister Andreas Rödl und gibt sich zuversichtlich: „Wenn’s Impfen Fahrt aufnimmt, sollte die Premiere am 14. Mai sicher sein.“ Günther Gremp