Spaniens "Lockdown" endet

Neustart auf dem Jakobsweg

Plötzlich tritt Glanz in seine Augen. „Wenn ich wieder hier drinnen sitze und allein die offene Tür sehe, durch die Pilger eintreten können“, sagt Iñaki Garralda, „spüre ich eine tiefe Freude.“ Zusammen mit seinem Bruder César führt der 51-Jährige in der Altstadt von Pamplona die Pilgerherberge „Casa Ibarrola“. Spaniens Corona-„Lockdown“ hat ihm – und dem Land – seit Mitte März schwerstens zugesetzt. 

Manches wird nicht mehr wie vorher

Nach Ausgangssperren und Grenzschließungen stehen jetzt alle Zeichen auf Neustart – auch auf dem Jakobsweg. Am Montag haben die Garraldas wieder geöffnet. An der berühmtesten Pilgerstrecke der Welt gehören sie damit zu den Ersten. Ob gleich jemand kommen würde, war ihnen gar nicht so wichtig. Iñaki Garralda gibt sich keinen Illusionen hin. Der Neustart ist schwierig.

Erste Zeichen haben die Pilger in der zweiten Juniwoche am Ziel in Santiago de Compostela gesetzt. Zwar waren es nur Spanier auf Kurzstrecken durch die Region Galicien. Doch immerhin – der Anfang war gemacht. Nun dürfte der internationale Pilgerbetrieb langsam wieder Fahrt aufnehmen. Drei der Quartiere am Jakobsweg in Spanien haben wir exemplarisch besucht. Das Fazit vorweg: Manches wird nicht mehr so sein wie vorher. 

Befürchtung: Schlafplätze reduzieren?

„Jetzt muss ich erst mal Strom und Gas wieder anmelden“, sagt Javier Rodríguez. Die Wiedereröffnung seiner Pilgerherberge „Plaza Catedral“, die er mit zwei Kompagnons am Domplatz von Pamplona betreibt, peilt er für den 1. Juli an. Wie viele seiner 45 Schlafplätze er dann bereitstellen darf, weiß er noch nicht. Er hofft: alle. Doch es steht zu befürchten, dass er die Kapazitäten reduzieren muss. Offizielle Vorgaben hat Rodríguez noch nicht erhalten. 

Dagegen kam es unlängst zu einer skurrilen Konstellation: „Die Tourismusbehörde hier aus Navarra hat mich kontaktiert und angefragt, wann wir zu welchen Bedingungen wieder öffnen – aber das müssten die doch mir mitteilen!“, wundert sich Rodríguez. Er ist nur ein Beispiel von mehreren: Unter Herbergswirten herrscht über die Vorfreude hinaus allerorten Verwirrung und Ungewissheit. 

Absperrbänder wie bei Verbrechen

Trennwände aus Plexiglas hat Rodríguez nicht geordert, zumal die Preise dafür in astronomische Höhen geschossen sind. Dafür hat er gerade Absperrbänder gekauft – „solche, die man sonst bei Verbrechen benutzt“. Die Aufenthaltsbereiche der Herbergen dürfen vorläufig nicht oder nur begrenzt zugänglich sein. Zudem müssen Broschüren, Bücher und Spiele bis zur Wiedereröffnung verschwinden. 

Auch die Küchen, mit denen manche Herbergen ausgestattet sind, dürfen nicht oder nur eingeschränkt benutzt werden. So genau weiß das aber niemand. Und wie der vorgegebene Mindestabstand – „derzeit eineinhalb Meter“, sagt Rodríguez – in der Praxis eingehalten werden soll, ist ein Rätsel. Denn in Herbergen spielt sich erfahrungs-gemäß alles auf engstem Raum ab. Gerade hier herrscht der wahre Geist der Pilgerbewegung. 

In Herbergen: Maske auf

Die Quartiere sind nicht nur Orte der Rast, wo man Komfortverzicht übt und dadurch geerdet wird, dass man den eigenen Schlafsack auf der Pritsche ausbreitet und die Sanitäranlagen mit anderen Pilgern teilt. Jede Herberge ist eine Begegnungsstätte, eine Nachrichtenbörse, ein Mikrokosmos. Wer nach eines langen Tages Marsch oder Radfahrt hier eintrifft, landet in einer Oase – und wird sich künftig eine Schutzmaske aufsetzen müssen, ebenso wie die Wirtsleute.

Die Betreiber der Herbergen erwarten Mehrarbeit und Mehrausgaben. Iñaki Garralda erzählte vor seiner Wiederöffnung, er stelle sich darauf ein, bei Ankömmlingen prüfen zu müssen, ob sie Fieber haben. Dann muss er ihnen Tüten aushändigen, damit die Pilger sofort ihre Wanderstiefel und das Gepäck darin verstauen. Das darf man als zweifelhafte Hygiene erachten, typisch für die Erfindung an Politiker- und Beamtenschreibtischen. Denn die Schuhe dampfen noch, der Rucksack ist durchtränkt von Schweiß. Packt man all das in Plastik, bewirkt das eine unvergleichliche Aura.

Überall in den Herbergen müssen Desinfektionsmittelspender stehen. „Nach jedem Duschgang“, sagt Garralda, müsse er dort eine Desinfektion vornehmen. Ob ihn das stört? Das gehöre halt zum Job, weicht er diplomatisch aus. „Wir achten sowieso penibel auf Sauberkeit“, sagt er dann. „Das spiegelt sich in den guten Bewertungen im Internet wider.“

Patentierte Betten

Die patentierten Kapselbetten in der Herberge der Brüder Garralda lassen sich zum Gang hin mit Storen verschließen und sorgen so für eine gewisse Abschottung. Allerdings dürfen wegen der Abstands- und Hygieneregeln vorläufig nur zehn von 20 Betten belegt werden. Iñaki hofft, dass die abwaschbaren, antibakteriellen Kissenüberzüge und Bettunterlagen reichen. Denn die Bestimmungen sind uneinheitlich. 

Kollegen aus anderen Regionen müssen – entgegen aller Ökologie – Wegwerf-Laken und Einmal-Kissenhüllen benutzen. So ist es bei Enrique Valentín, der am Jakobsweg durch die Rioja im Dorf Ventosa die Herberge „San Saturnino“ betreibt.Seine Übernachtungspreise muss er deshalb ganz leicht erhöhen: von elf auf zwölf Euro. In der „Casa Ibarrola“ (18 Euro) und in der Herberge „Plaza Catedral“ (15-18 Euro) bleiben die Preise gleich. 

Was nicht gleich bleibt, ist das Frühstück. Sowohl bei den Brüdern Garralda als auch bei Javier Rodríguez stand das bislang als Büfett bereit. Künftig muss alles individuell auf den Tisch kommen. Garralda sieht in der Portionierung aber einen finanziellen Vorteil. Denn bei Selbstbedienungspilgern hat er oft dies beobachtet: „Zwei Muffins isst man, sechs steckt man als Proviant in die Tasche.“

Nicht alle Herbergen offen

Pilger müssen sich darauf einstellen, vor manch verschlossenem Tor zu stehen. Wirt Rodríguez kennt Herbergen, die erst im August öffnen – oder in diesem Jahr gar nicht mehr. „Es sind bisher zwar alles Gerüchte, aber darunter dürften viele öffentliche Herbergen sein“, sagt Rodríguez und meint jene, die von Städten, Gemeinden und Kirchen unterhalten werden. Dort ist man auf die Einnahmen nicht so angewiesen wie in den teureren Privatherbergen.

"2020 – komplett verloren"

Das Pilgerjahr hatte verheißungsvoll begonnen, bevor es durch die Corona-Krise Mitte März jäh zum Stillstand kam. „Ruhig“ werde es weitergehen, fürchtet Iñaki Garralda. „Die Entwicklung wird wellenförmig sein.“ 2020 hält er wirtschaftlich für „komplett verloren“, hofft aber zumindest auf den gewöhnlich starken Pilgermonat September – und auf das kommende Jahr. Dann steht nach 2004 und 2010 wieder ein heiliges Jakobusjahr an, was besonders viele Menschen dazu animiert, auf dem Jakobsweg zu pilgern. 

In der Herberge „Plaza Catedral“ sind für August und September bereits Reservierungen eingegangen. Vielleicht könne man aus dem Oktober „noch etwas herausholen“, hofft Wirt Rodríguez, um vor allem für die Großzügigkeit des Hausbesitzers zu danken. Der hat dem Quartier von Beginn des Alarmzustands an die Monatsmiete von annähernd 3000 Euro erlassen. Wäre das nicht so gewesen, sagt Rodríguez, „hätten wir unser Geschäft aufgeben müssen.“

Andreas Drouve

25.06.2020 - Corona , Jakobsweg , Pilgerreise