Vor 50 Jahren geht der „Prager Frühling“ gewaltsam zu Ende

Niedergewalzte Blüten

Prag am 20. August 1968, gegen 22 Uhr: Urplötzlich wird die abendliche Stimmung in der Goldenen Stadt gestört durch ein unheimliches Dröhnen und Brummen von Flugzeugtriebwerken. Bei der Flugaufsicht oder im Verteidigungsministerium sind jedoch keine militärischen Flugbewegungen angemeldet, lediglich eine Maschine mit russischen „Touristen“. Dann aber landet das erste von mehreren schweren Transportflugzeugen auf dem Flughafen Prag-Ruzyně. KGB-Spezialeinheiten und sowjetische Fallschirmjäger besetzen die Hallen und den Tower, Panzer rollen in Richtung Innenstadt. 

Es war der Anfang vom Ende eines Freiheitstraums, der im Januar 1968 in der ČSSR begonnen hatte: Mit der Wahl des charismatischen Slowaken Alexander Dubček zum Ersten Sekretär der tschechoslowakischen Kommunisten sollte jenes außergewöhnliche politische Experiment seinen Anfang nehmen, das als „Prager Frühling“ in die Geschichte einging.

Kommunismus light

Durch eine umfassende Liberalisierung sollte das System reformiert werden, hin zu einem „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“. Zum Entsetzen der Hardliner in der eigenen Partei strebten die Reformer eine Verknüpfung von Plan- und Marktwirtschaft, politische Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit an. Nunmehr sollte die KP ihren Führungsanspruch gegenüber der aufblühenden Bürgergesellschaft demokratisch legitimieren. Allerdings war weder eine Abschaffung des Kommunismus geplant noch an ein Ausscheiden aus dem Warschauer Pakt. 

Moskau ging dies alles schon viel zu weit, Erinnerungen an Ungarn 1956 wurden wach. KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew fürchtete, der Zerfall des Ostblocks würde sich beschleunigen, nachdem China und Jugoslawien sich gegen Moskau gestellt hatten und nun auch Albanien und Rumänien Autonomie anstrebten. 

Mit Argwohn wurden Dubčeks eigenmächtige diplomatische Sondierungen zur Bonner Bundesregierung beobachtet. Für die sowjetischen Militärs war die ČSSR ein unverzichtbarer strategischer Eckpfeiler und Stationierungsort für Nuklearwaffen. Nun kamen in den tschechoslowakischen Streitkräften reformfreudige Offiziere wie General Václav Prchlík ans Ruder: Prchlík riet sogar zur Ausarbeitung von Abwehrplänen gegen eine sowjetische Invasion, was aber von Dubček abgelehnt wurde. 

Ab März 1968 warnten KGB-Chef Juri Andropow und Außenminister Andrei Gromyko vor einer kapitalistischen Machtübernahme in der ČSSR und einem Zerfall des Warschauer Pakts. Zu den schärfsten Anklägern Dubčeks zählten aber auch die kommunistischen Führungen Polens und der DDR: Władysław Gomułka und Walter Ulbricht forderten Breschnew zum harten Durchgreifen auf. Auf Geheiß der SED wurden deutschsprachige Sendungen von Radio Prag gestört. Die DDR-Staatssicherheit legte Sonderdossiers über prominente Reformer in der ČSSR an. 

Altväterliche Drohungen

Nun war Dubček in der Sowjet­union aufgewachsen und galt eigentlich als „Mann Moskaus“. Gerade deshalb wollte Breschnew es zunächst mit Worten versuchen: In einer Reihe von persönlichen Unterredungen und Telefonaten bedrängte er den „abtrünnigen“ Dubček, seine „konterrevolutionäre“ Politik zu revidieren und die Reformer in seinem Umfeld zu entlassen. Anfangs war Breschnews Ton noch freundlich-altväterlich, dann wurden seine Drohungen und Erpressungsversuche immer unverblümter – doch Dubček blieb standhaft. 

Auch das russische Säbelrasseln wurde lauter: Auf eine Militärübung in Südpolen ließ der Warschauer Pakt ab 19. Juni ein Großmanöver in der ČSSR selbst folgen, und zur Verärgerung Dubčeks weigerte sich der Kreml entgegen der Planungen, einige Truppenteile wieder abzuziehen. 

Wobei in jenen Tagen in der ČSSR sogar Panzer mit US-Hoheitszeichen und Männer in amerikanischen Uniformen aufgetaucht waren – beobachtet von sowjetischen Hubschraubern. Die DDR-Presse sprach von einer CIA-Tarnoperation! In Wahrheit wurde an der Moldau der Hollywood-Kriegsfilm „Die Brücke von Remagen“ gedreht. In der angespannten Lage konnte sogar dies in Moskau missverstanden werden.

Auch in der tschechoslowakischen KP hatte sich inzwischen eine moskautreue Gruppe formiert, die nur auf eine Gelegenheit wartete, Dubček zu stürzen. Jene Putschisten verfassten eine „Einladung“ an den großen Bruder in Moskau, eine „kollektive Hilfsaktion“ zu starten: Das Papier wurde bei einer Konferenz in Bratislava an die Russen übergeben – als geheimen Treffpunkt wählte der KGB eine Herrentoilette – und in den ersten Stunden der Invasion von sowjetischen Medien verbreitet. 

Dritter Weltkrieg? Egal!

Spätestens ab Mitte Juli lief alles auf eine Militärintervention hinaus. Doch noch spielte der Kreml auf Zeit, um parallel laufende diplomatische Verhandlungen mit der US-Regierung über atomare Abrüstung erst in trockene Tücher zu bringen. Dann gab das Moskauer Politbüro bei seinen Beratungen am 16. und 17. August grünes Licht für die „Operation Donau“: „Diese Entscheidung muss jetzt umgesetzt werden, sogar wenn das in einen Dritten Weltkrieg führt!“, verkündete der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Andrei Gretschko. 

In der Nacht vom 20. zum 21. August 1968 überschritten sowjetische Truppen die tschechoslowakischen Grenzen, zunächst 250 000 und schließlich 400 000 Rotarmisten mit 2000 Panzern. Mit Transportflugzeugen wurden sowjetische Luftlandetruppen eingeflogen – mit Verzögerungen, weil der Flughafendirektor von Prag-Ruzyně nach den ersten Landungen den Strom abstellte. Hinzu kamen auf Breschnews Drängen Verbände aus Polen, Bulgarien und Ungarn, 70 000 bis 80 000 Mann stark. 

Auch Ulbricht hätte nur zu gerne die Nationale Volksarmee in den Militäreinsatz geschickt. Doch im letzten Moment stoppte der Kreml die zwei designierten NVA-Divisionen aus Dresden und Halle, um keinerlei Reminiszenzen an die Aggression Hitlers 1938/39 aufkommen zu lassen und so den tschechoslowakischen Kampfgeist zu befeuern. Lediglich eine Gruppe NVA-Stabs­offiziere nahm an der Invasion teil. Weil dies der SED geradezu peinlich war, mussten DDR-Medien mit gefälschten Berichten den Eindruck erwecken, die NVA nehme in der ČSSR doch an der „Verteidigung des Sozialismus“ teil. Tatsächlich tauchten dann in der ČSSR Parolen auf wie „Hitler 1938, Ulbricht 1968!“ und „Ihr wiederholt München!“. 

Den sowjetischen Soldaten war gesagt worden, sie würden als Befreier bejubelt, müssten aber mit Straßenkämpfen oder sogar mit der Anwesenheit von Nato-Truppen rechnen. Doch weil Dubček ein Blutvergießen fürchtete, wies er die Armee und Bevölkerung an, keinen bewaffneten Widerstand zu leisten. Allerdings bemühten sich die Tschechen und Slowaken, die Invasion zu sabotieren, indem sie unter anderem Straßenschilder umdrehten oder abmontierten. Als Akt des Protests hängten mutige Frauen ihre Handtaschen über die Panzerkanonen. 

Um 2 Uhr nachts standen sowjetische Panzer an den strategisch wichtigen Punkten Prags. Während Dubček mit seinen Getreuen eine Krisensitzung abhielt, stürmten russische Kommandotruppen und KGB-Agenten das ZK-Gebäude. Hinter Dubček und seinen Mitstreitern am Konferenztisch positionierte sich jeweils ein Elitesoldat mit Waffe im Anschlag. Ein sowjetischer Oberst verkündete, dass alle Anwesenden in „Schutzhaft“ genommen seien. 

Die Welt soll es erfahren

Bis zur letzten Minute versuchte der tschechoslowakische Rundfunk die Berichterstattung aufrechtzuerhalten: Der restlichen Welt sollte das brutale sowjetische Vorgehen nicht verborgen bleiben. Als sich immer mehr Demonstranten auf den Straßen versammelten, das Rundfunkgebäude zu schützen versuchten, Barrikaden errichteten und Panzer mit Hakenkreuzen bemalten, eröffneten die Invasoren das Feuer. Unbewaffnete Protestierende wurden erschossen oder von Panzern überrollt: 137 Todesopfer gelten als gesichert, vermutlich aber dürften rund 500 Menschen ihr Leben verloren haben. 

Gerade als der Rundfunk die tschechoslowakische Hymne spielte, drangen Soldaten ins Gebäude ein. Weil sie jedoch keine Ahnung von Übertragungstechnik hatten, kappten sie die falschen Leitungen, so dass aus einem abgelegenen Nebenstudio weitergesendet werden konnte. 

Dubček wurde nach Moskau verschleppt und genötigt, am 26. August seinen Reformkurs zu widerrufen. Ursprünglich sollte er auch sofort seines Postens als Erster Sekretär enthoben werden. Doch um keinen „Märtyrer“ zu erschaffen, beließ ihn Breschnew zunächst im Amt, ehe er im April 1969 durch Gustáv Husák ersetzt wurde. Erst die „samtene Revolution“ von 1989 brachte die Rehabilitierung der Reformer. Dubček kehrte als Parla­mentspräsident kurz auf die politische Bühne zurück.

Michael Schmid

20.08.2018 - Historisches , Politik