Noch immer ist er spürbar. Der Geist von 1989, als sich in Leipzig die Welt veränderte. Seit 1986 steht am Eingang der Nikolaikirche das metallene Schild mit der Aufschrift „Offen für alle“. So wie es der frühere Pfarrer Christian Führer immer gewollt hat. Am Ende, im Herbst 1989, stand die Entwaffnung der SED und ihrer Organe, das Ende der roten Diktatur.
Die Menschen, die in den 1980er Jahren in der Nikolaikirche Zuflucht fanden, hatten genug von den Lügen der Partei und ihren ferngesteuerten Medien. „Christian Führer wollte eine Kirche der Begegnung und offenen Streitkultur“, sagt Pfarrer Bernhard Stief, der die Nikolaikirche seit 2015 leitet und sich dem „Lebenswerk seines Amtsvorgängers verpflichtet“ fühlt, wie er sagt. Noch immer gibt es hier die Junge Gemeinde, in den 1950er Jahren das Feindbild der SED schlechthin.
Mit friedlichen Mitteln bezwungen
2014 ist Christian Führer nach einem Krebsleiden verstorben. In den Wendetagen ging sein Name durch die Weltpresse, nachdem es ihm, dem einfachen Pastor und Familienvater, gelungen war, die SED mit friedlichen Mitteln in die Knie zu zwingen. Ein David, der ohne Schleuder und allein auf das Wort Gottes bauend, Goliath zu Fall brachte. In der ZDF-Romanverfilmung „Nikolaikirche“ von 1996, nach dem gleichnamigen Roman von Erich Loest, wurde Führer vom 2006 verstorbenen Oscarpreisträger Ulrich Mühe verkörpert.
„Die DDR ist hier weiter ein Thema“, sagt Pfarrer Stief. Allein der vielen Besucher wegen, die die Nikolaikirche als „historischen Ort“ wahrnehmen und den Mitarbeitern Fragen stellen. Auch der kleine Verkaufsladen im Seitenschiff hat sich darauf eingestellt, indem er Revolutionssouvenirs, Romane von Erich Loest und DVDs anbietet.
Die Ereignisse von 1989
Eine Ausstellung in den Kirchenräumen lässt die Ereignisse von 1989 Revue passieren. Was längst Geschichte ist, steht dort auf Plakaten und Bildern. Der Nikolaiküster, zu Beginn der 1980er Jahre im Visier der Staatssicherheit, hat Teile seiner Opferakte für die Ausstellung zur Verfügung gestellt.
Nachdem sich die Lage in der DDR zum 40. Jahrestag ihrer Gründung zugespitzt hatte und immer mehr Menschen den „Arbeiter- und Bauernstaat“ gen Westen verließen, war die Nikolaikirche das Epizentrum einer bunt gemischten Bürgerrechtsbewegung. Am 9. Oktober 1989 war sie auf 70 000 bis 100 000 Menschen angeschwollen, die protestierend die Straßen Leipzigs füllten. Nur wenige Tage später entfernten die SED-Genossen ihren Generalsekretär Erich Honecker aus Amt und Würden, bevor die Ereignisse auch sie hinwegspülten und die DDR am 3. Oktober 1990 Geschichte war.
In den Jahrzehnten, die seither vergangen sind, erlebte die Nikolaikirche Höhen und Tiefen, sagt Pfarrer Stief. Vor allem der starke Mitgliederschwund macht ihm Sorgen. Jeden Nachmittag lädt die Gemeinde zu kostenfreiem Kaffee und Gebäck in ihr kleines Café am Nikolaikirchhof. Neben Höherbetagten und Müttern mit kleinen Kindern tummeln sich dort auch ausländische Studenten.