Brauchtum in Corona-Zeiten

„Für Christen ist jeden Tag Ostern“

Auch wenn es in Medien und Handel bisweilen so wirkt: Ostern ist kein Konsumfest mit Schokohasen und bunten Eiern. Für Christen ist es gelebte religiöse Tradition. Die Kreuz­reiterprozession in der Lausitz ist einer der jahrhundertealten Bräuche, die sich um das wichtigste christliche Fest ranken.

Zwischen Wittichenau und Ralbitz findet alljährlich seit 1541 die größte Prozession zur Verkündigung der frohen Botschaft von der Auferstehung Christi statt. Ihre Besonderheit ist ihre Zweisprachigkeit: Sorbisch und Deutsch. Im vorigen Jahr wurde das Osterreiten corona­bedingt komplett abgesagt. In diesem Jahr soll ein strenges Hygienekonzept die Reiter wieder auf den Rücken ihrer Pferde bringen. 

Von Wittichenau aus reiten die deutschsprachigen Kreuzreiter am Ostersonntag durch die geschmückten Orte Cunnewitz, Schönau, Sollschwitz und Saalau. Vom zwölf Kilometer entfernten Ralbitz starten die sorbischen Reiter singend und betend gen Wittichenau. Beide Prozessionen begegnen sich nicht. So will es nicht die Corona-Verordnung. So will es die Tradition.   

Überzeugter Kreuzreiter

Hubertus Schmidt aus dem brandenburgischen Neuzelle ist seit über vier Jahrzehnten überzeugter katholischer Kreuzreiter. „Schon als Kind wollte ich von Beruf Osterreiter werden“, berichtet er, während er vor dem Stall neben seinem Haus steht. Schmidt kommt aus deutsch-sorbischer Familie. „Meine Mutter war Sorbin“, sagt er. Ein bisschen versteht und spricht er die Sprache der slawischen Volksgruppe auch selbst. 

„Großgeworden bin ich in Wittichenau“, erzählt Schmidt. Alle Männer in seiner Nachbarschaft waren aktive Osterreiter. Er selbst saß bereits mit vier Jahren das erste Mal auf dem Rücken eines Pferdes. Mit elf Jahren ging er in einen Reitsportverein. 1977 war er mit 14 Jahren das erste Mal beim Osterreiten dabei. Bis heute sind Pferde seine große Leidenschaft. 

Liebevoll stellt Schmidt seine Tiere vor: „Die heißt Sternchen, die andere Sari und bekommt bald ein Fohlen. Das hier ist mein ältester Freund, der Falko. Er ist schon 19 Jahre alt.“ In Neuzelle wohnt Hubertus Schmidt seit 1984. Damals heiratete er seine Frau Viola. Zusammen haben sie vier Kinder. Mittlerweile trägt seine Frau die Leidenschaft ihres Mannes mit.

Intensive Vorbereitungen

Die mühsamen Vorbereitungen, die sein Hob­by mit sich bringt, und die jährliche Fahrt nach Wittichenau sind keine Sache von Stunden, sondern von Wochen. Zu den intensiven Vorbereitungen auf das Osterreiten gehören das Schmücken, Zäumen und Striegeln der Pferde. Die Mähnen werden wie Locken beim Friseur eingeflochten und toupiert. Damit alles hält, wird Zuckerwasser genutzt. Das mögen zwar nicht alle Pferde, aber die meisten lassen es sich gefallen. 

Wer zum ersten Mal als Osterreiter dabei ist, bekommt früh um 5 Uhr bei der Osterreiter-Messe ein vom Pfarrer gesegnetes Erkennungszeichen: ein grünes Kränzchen aus Asparagus. Wer seit 25 Jahren dabei ist, trägt ein silbernes Kränzchen, bei 50 Jahren folgt das goldene. Mittlerweile gibt es selbst Teilnehmer, die schon seit über sechs Jahrzehnten mitreiten. 

An der Prozession mit über 420 Osterreitern dürfen nur Katholiken teilnehmen. Sie müssen aus Wittichenau oder den umliegenden sorbisch geprägten Dörfern stammen. Die Kreuzprozession am Ostersonntag ist für die jungen und älteren Männer alles andere als ein sonntäglicher, gemütlicher Ausritt. 

Um 8.30 Uhr aufs Pferd

„Sonntagfrüh um 4 Uhr wird aufgestanden“, schildert Hubertus Schmidt. „Dann schauen wir zuerst nach den Pferden. Um 5 Uhr ist die Osterreiter-Messe in Wittichenau.“ Die Pferde werden geputzt, gesattelt und geschirrt. Der Schweif erhält eine weiße Schleife mit Blumen­ornamenten. „Wir steigen genau um 8.30 Uhr aufs Pferd.“ 

Die Tiere – ob Haflinger, Friese oder Holsteiner – sind festlich geschmückt, einige mit silbernen Mondsicheln als Zeichen des Sieges über die muslimischen Türken im 17. Jahrhundert vor Wien oder mit Jakobsmuscheln – ein Symbol der Pilgerschaft. Am Halsriemen hängt meistens das Osterlamm. Unter den Sattel kommt eine blaue Schabracke. Auch dort ist das Osterlamm von beiden Seiten aufgestickt.

Die Reiter sind an ihrer klaren Anzugsordnung zu erkennen: Gehrock, schwarze Hose, Lederstiefel, weißes Hemd, Fliege, Zylinder und weiße Handschuhe. Für ihre Montur und den Schmuck der Pferde sind die Reiter persönlich verantwortlich. Auch finanziell müssen sie dafür aufkommen. Keine billige Sache: Ein Zylinder kostet schon mal ab 200 Euro aufwärts. Oft werden die Utensilien für Pferd und Reiter daher in den Familien vererbt.

„Wenn’s losgeht, wird noch einmal ein Vaterunser und ‚Gegrüßet seist du, Maria‘ gebetet. Meine Mutter hat uns dann immer mit Weihwasser eingesprengt und gesegnet“, erinnert sich Schmidt. Dann stehen die Reiter in den Straßen von Wittichenau und warten auf den Beginn. „Da steht man in den schmalen Gassen und muss eine gute halbe Stunde warten, bevor es losgeht. Das macht die Pferde schon ein bisschen verrückt.“ 

Um 9.30 Uhr ist Kreuzübergabe vor der Kirche. Der Pfarrer gibt den Berittenen den Auftrag, die frohe Botschaft zu verkünden. Der Gesang mit dem alten Wittichenauer Osterlied setzt ein: „Nun ist erfüllet, nun ist vollbracht.“ Das sei jedes Mal sehr ergreifend, sagt Schmidt. Die Männer reiten drei Mal um die Kirche und vorbei am Marktplatz mit hunderten Schaulustigen – zumindest in coronafreien Jahren. Diesmal sind keine Zuschauer zugelassen.

„Alle Reiter waren weiß“

Dann geht’s in Richtung Ralbitz. Ob die Sonne scheint oder es regnet – das Wetter wird genommen, wie es kommt: „Als ich 1977 angefangen habe, war Schneetreiben und alle Osterreiter waren weiß.“ Gegen 12 Uhr kommen die Reiter in Ralbitz an, wo sie vom dortigen Pfarrer begrüßt werden. Wieder reiten sie drei Mal um die Kirche. Die Dreizahl erinnert an die Dreifaltigkeit von Gott-Vater, Gott-Sohn und Heiligem Geist.

Im sorbischen Ralbitz weist der Reiterzug eine Besonderheit auf: „Da reiten wir direkt durch den Friedhof durch. Das ist der Ort mit den weißen Kreuzen.“ In Reih’ und Glied stehen sie da und gleichen sich dabei wie ein Ei dem anderen. Auch die Gräber sind gleich gestaltet – „nach dem Motto: Vor Gott sind alle gleich“, erklärt Schmidt.

Zweisprachige Andacht – sorbisch-deutsche Lieder

Nach dem deftigen Mittagessen folgt um 14 Uhr eine zweisprachige Andacht in der kleinen Kirche von Ralbitz. Die Pferde erhalten in dieser Zeit frisches Wasser und guten Hafer. Ab 15 Uhr reitet die Prozession singend zurück nach Wittichenau, wo sie gegen 18 Uhr eintrifft. Die Osterreiter nutzen ein eigenes sorbisch-deutsches Liederheft. Darin ist auch vermerkt, in welchen Ortschaften welche Lieder gesungen werden. In Wittichenau folgt zum Abschluss eine Dankandacht.

Nahezu den ganzen Tag sitzen die Osterreiter aus der Lausitz im Sattel – das steckt den Teilnehmern teils nach Tagen noch in den Knochen: „Wenn man absteigt, muss man sich erst einmal einlaufen“, sagt Schmidt. „Ich bin auch nicht mehr der allerjüngste.“ Auch geht mit den Pferden nicht immer alles glatt: Auch Hubertus Schmidt wurde schon mal von seinem Tier abgeworfen. „Man muss schon ein bisschen vorausschauend reiten. Ein Pferd ist kein Auto. Die haben zwar einen großen Kopf, aber meistens nicht viel drin“, sagt er lachend.

Schmidts Enkelinnen interessieren sich sehr für das Osterreiten. Da aber alle Osterreiter Männer sein müssen, werden sie ihren Opa niemals beerben können. Hubertus Schmidt findet das nicht tragisch:  „Man muss die Kirche im Dorf lassen und sollte nicht auf jeden Wagen aufspringen, der vorbeifährt“, sagt er. „Es ist etwas konservativ gedacht, aber es muss nicht unbedingt schlecht sein, dass beim Osterreiten nur Männer auf den Pferden sitzen.“

Dann kam die Pandemie

In vier Jahrzehnten war Schmidt nur zwei Mal nicht in Wittichenau dabei: Einmal hatte er sich ein Bein gebrochen – und 2020, als die Reiterprozession wegen der Corona-­Pandemie abgesagt wurde. Solange es das Brauchtum gibt, sagt Schmidt, „wurde immer geritten: im Krieg, bei der Pest – das Osterreiten wurde immer durchgeführt, durch alle Regime, durch alle Krankheiten“. Dann kam Corona.

Als passionierter Osterreiter ließ sich Schmidt etwas einfallen: „Ich habe wie jedes Jahr mein Osterreitergeschirr geputzt, mein Pferd gesattelt, die Osterreiterschabracke raufgelegt und bin dann genau wie in Wittichenau mit meinem Liederheft um halb neun losgeritten, nach Treppeln ins neu entstehende Kloster der Zisterziensermönche. Das war für mich Osterreiten in Neuzelle unter Corona-Bedingungen.“

Per Video: Nun ist erfüllet, nun ist vollbracht

Unterwegs habe er innegehalten und den Rosenkranz sowie das Vaterunser gebetet. Einer seiner Freunde schickte ihm aus Wittichenau ein Video. Auch er ritt privat mit Gehrock und geschmücktem Pferd nur für sich allein an diesem Ostersonntag 2020 und sang dabei das Lied „Nun ist erfüllet, nun ist vollbracht“ – das war für ihn ergreifend, sagt Schmidt mit stockender Stimme und einer Träne in den Augen.

Für den Pferdefreund und gläubigen Katholiken hat sich sein Kindheitstraum vom „Beruf“ des Osterreiters irgendwie doch noch erfüllt: Er fühlt sich im besten Sinne des Wortes dazu berufen, die Tradition wachzuhalten und in die Zukunft zu retten – und das das ganze Jahr über: „Für Christen ist eigentlich jeden Tag Ostern.“

Rocco Thiede