Embryoadoption: Interview mit Weihbischof Anton Losinger

Schneeflocken im Labor

Emma Wren Gibson ist nun rund zwei Monate alt. Ihre Geburt in den USA machte Schlagzeilen, weil sie als Embryo 24 Jahre lang in einer Kinderwunschklinik eingefroren – fachsprachlich „kryokonserviert“ – war. Ihre Mutter war selbst erst 25, als sie den Embryo adoptierte und austrug. Im Gespräch mit unserer Zeitung betont der Augsburger Weihbischof Anton Losinger, Mitglied in der Bioethik-Kommission der Bayerischen Staatsregierung, dass kryokonservierte Embryonen in jedem Fall als werdende Menschen betrachtet werden müssen. Lesen Sie dazu auch einen Kommentar unserer Redakteurin Romana Kröling.

Herr Weihbischof, nach 24 Jahren als eingefrorener Embryo ist in den USA die kleine Emma geboren worden – doch nicht von ihrer genetischen Mutter. Ist so etwas auch in Deutschland möglich?

Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass in Deutschland die Grundsituation ähnlich ist wie in den USA. Wir haben einen dramatischen Fortschritt in der Entwicklung der reproduktionsmedizinischen Technik. Angesichts der Embryonen, die im Rahmen einer künstlichen Befruchtung einer Frau nicht wie geplant eingepflanzt werden können – entsprechend der gesetzlichen Dreierregel –, bleibt auch in Deutschland ein ganzer Berg an kryokonservierten Embryonen übrig. 

Was genau besagt denn die Dreierregel?

In Deutschland haben wir, was den rechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens anbelangt, einen der weltweit höchsten Schutzstandards. Nach dem Embryonenschutzgesetz genießt ein Embryo als embryonaler Mensch höchsten Schutz und muss auch im Blick auf die rechtliche, wissenschaftliche und medizinische Forschungslage so behandelt werden. Es dürfen deswegen nur zum Zweck der Implantation in den Uterus einer Frau, die einen Kinderwunsch hat, Embryonen hergestellt werden. Pro Zyklus einer Frau ist eine maximale Zahl von drei zu befruchtenden Embryonen vorgesehen.

Aber warum gibt es dann trotzdem so viele überzählige Embryonen?

Im Grunde genommen wird die Dreierregel konstant übertreten. Das Gesetz kann nämlich auch anders ausgelegt werden: Da bei der künstlichen Kreierung von menschlichen Embryonen immer wieder solche dabei sind, aus denen keine Schwangerschaft entsteht, darf der Mediziner so viele herstellen, dass am Ende drei übrig bleiben. Deswegen gibt es überzählige Embryonen. In Deutschland geht man davon aus, dass es möglicherweise zwischen 20 000 und 60 000 sind, in den USA gibt es möglicherweise über 200 000 sogenannte Snowflakes (deutsch: Schneeflocken). Diese Kehrseite der künstlichen Befruchtung und der reproduktionsmedizinischen Technik muss benannt werden.

Auf der anderen Seite ist immer zu sagen: Wenn Eltern, die keine Chance haben, ein Kind zu bekommen, durch eine medizinische Technik den Kinderwunsch erfüllt bekommen, ist es für sie das Größte. Und eine Familie mit einem Kind ist der Glücksfall schlechthin – das berichten auch diese Eltern und deswegen ist prinzipiell die positive Seite klar. Aber es wäre nicht richtig, die anderen Phänomene auszublenden.

Sie haben gesagt, es gibt 20 000 bis vielleicht sogar 60 000 eingefrorene Embryonen in Deutschland. Was passiert mit ihnen, wenn sie nicht adoptiert werden?

Die Antwort ist klar: Sie werden vernichtet. Und damit ist eines der ganz dramatischen Probleme der Reproduktionsmedizin und des Embryonenschutzgesetzes gegeben, nämlich dass sogenannte überzählige Embryonen keine Chance auf Leben haben. 

Die Dramatik dieser Beobachtung besteht darin, dass wir – und zwar nicht nur, weil es eine spleenige Idee von Theologen wäre, sondern weil die Naturwissenschaftler uns das nach aktuellen Erkenntnissen bestätigen – sagen müssen: Nach der Verbindung von Ei und Samenzelle und der Verbindung der beiden DNA-Strukturen von Mann und Frau ist ein embryonaler Mensch entstanden, der auch durch unser Grundgesetz mit Menschenwürde und Lebensrecht ausgestattet ist.

In der wissenschaftlichen Debatte wird inzwischen mehr und mehr klar: Alle anderen Bezugspunkte, mit denen man den Beginn des menschlichen Lebens bestimmt, sind abgeleitete Bezugspunkte, zum Beispiel der Augenblick der Nida-
tion, also der Einnistung der befruchteten Eizelle, zum Beispiel der Augenblick der Entwicklung der ersten Ganglienverbindungen in einem Babygehirn, zum Beispiel der Augenblick der Geburt. 

Müsste das nicht auch Konsequenzen für das Abtreibungsgesetz haben?

Das würde ich so sehen. Selbst die bestgemeinte Fristenregelung kann nicht abstreiten, dass es sich bei dem embryonalen Menschen, der abgetrieben wird, eben um einen Menschen handelt. Die Unsicherheit des Gesetzgebers hat sich ja auch darin gezeigt, dass in den Paragrafen 218 und 219 zwar von einer Straffreiheit ausgegangen wird, aber nicht von einer Erlaubtheit. 

Gerade die Kirche bemüht sich mit allen Mitteln – nicht nur im Blick auf die Bewusstseinsbildung, sondern auch im Blick auf eine weite und weitestgehende Hilfe für junge Frauen – dass solche embryonalen Menschen nach der Zeugung eine Chance auf Leben haben.

Aber dann sind Embryoadoptionen eigentlich etwas Gutes, oder?

Im Einzelfall oder der ganz geringen Zahl der Fälle, wo es zu einer Embryoadoption kommt, ist das für diese Situation eine gute Lösung. Weil damit ein menschlicher Embryo, der ja bereits ein embryonaler Mensch ist, im Grunde nicht für die sogenannte Verwerfung bestimmt sein wird, sondern die Chance auf Leben hat. Insofern kann man sagen, wenn das glücklich geht, ist das eine großartige Sache. Aber für Tausende von kryokonservierten Embryonen, die derzeit bereits vorhanden sind, und den Berg, der ja konstant wächst, ist das keine Lösung. 

Zudem muss man auch bedenken, dass alle Probleme der Reproduktionsmedizin hier zur Geltung kommen. Zum Beispiel: Ehe ein solcher Embryo eingepflanzt wird, wird er natürlich bestimmten genetischen Tests unterzogen. Damit sind wir bei der heißen Diskussion um Präimplantationsdiagnostik und der Frage: Dürfen menschliche Embryonen, also embryonale Menschen, nur deswegen, weil ein genetischer Defekt bei ihnen entdeckt wurde, zur Verwerfung freigegeben werden? 

Eine zweite Frage, die damit zusammenhängt: Darf man nun aufgrund der neu zur Verfügung stehenden Techniken einen solchen menschlichen Embryo auch optimieren? Sie erinnern sich an diese hochspannende neue Genmanipulationstechnik CRISPR/Cas. Was hindert Menschen daran, hier nicht nur zu selektieren nach Hautfarbe, nach Augenfarbe, nach Haarfarbe oder etwa nach Intelligenz, auch nach der Prognose möglicherweise künftig auftretender genetisch bedingter Erkrankungen, sondern einen solchen Menschen auch zu „dopen“ und mit genetischen Möglichkeiten zu „enhancen“, wie die Engländer das nennen, also zu „verbessern“? 

Da taucht ein ganzer Schwarm von Zusatzproblemen auf, die an der Menschenwürde kratzen, nämlich die Frage: Wo wird ein solcher Mensch, der in einem künstlichen Szenario hergestellt wird, zu einem Produkt? Ab wann wird ein solches Produkt dann optimiert und wer hat das Recht und die Verantwortung, die genetischen Merkmale eines Menschen, der künftig geboren wird, zu bestimmen?

Was ergeben sich bei einer Embryoadoption für Identitätsprobleme?

Ein solches Kind hat zunächst einmal zeugende Eltern. Es bekommt empfangende Eltern, die das Kind adoptieren. Damit entsteht eine Spaltung zwischen einer biologischen, zwischen einer genetischen, einer juristischen und einer gesellschaftlichen Elternschaft. 

Das Kind stellt sich die Frage nach seiner Identität: Wohin gehöre ich? Das zeigt sich sehr deutlich auch daran, dass bei Adoptivfällen Kinder oft sehr stark nachforschen, wer ihre biologischen Eltern sind.

Bei all den technischen Möglichkeiten müssen wir beachten, dass das Lebensumfeld für Kinder human gestaltet werden muss. Das ist auch im Bereich das Adoptionsrechts ein ganz entscheidender Punkt, den das Jugendamt und die vermittelnden Stellen beachten müssen. Deswegen sind ja auch bei adoptierenden Eltern die Hürden so hoch angesetzt. 

Für ein Kind und die gesellschaftliche Verantwortung in diesem Kontext müssen wir immer ganz genau erkennen: Es handelt sich um einen kleinen Menschen mit Lebensrecht und Würde. Es handelt sich wie die Politik das zu gewissen Zeiten schon wirklich klug ausgedrückt hat, um den schwächsten Teil in einer Gesellschaft, der besonders schutzwürdig ist. Darum sind die Entwicklungsmöglichkeiten solcher Kinder eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die sich in den Rechten niederschlägt, die die Gesellschaft generiert, aber vor allem in der Verantwortung der engsten zu einem Lebensumfeld gehörenden Menschen, nämlich der Familie.

Was kann die Kirche tun?

In meinen Augen hat die Kirche zwei wesentliche Aufgaben: Erstens muss sie eine klare ethische Orientierung geben, wo immer es um die Würde und das unantastbare Lebensrecht jedes Menschen geht – vom ersten Augenblick seiner Zeugung bis hin zu einem hoffentlich friedlichen Sterben. Leben wir doch in einer neuen, extrem komplexen biomedizinischen und digitalen Welt, die uns heute mit ganz neuen Fragen bombardiert,  die wir gestern noch gar nicht kannten. Zweitens leistet sie ganz konkrete wirksame Hilfe, Beratung und Begleitung, wo Kinder und Eltern in Schwierigkeiten sind. Für unser Bistum Augsburg nenne ich hier nur die Serie der vielfältigen Hilfsangebote in Bezug auf Ehe und Familie.

Interview: Romana Kröling und Nathalie Zapf