Dresden, Paris, Nizza, Wien: Nach einer Phase relativer Ruhe ziehen islamistische Terroristen wieder eine blutige Spur durch Europa. „Diese bestialischen Morde werfen unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis des Islams zur Gewalt neu auf“, sagt Mouhanad Khorchide, Islamwissenschaftler und Religionspädagoge an der Uni Münster, im Gespräch mit unserer Zeitung.
Wie der Rest der Mehrheitsgesellschaft steht Khorchide erschrocken und wütend vor den sich häufenden Attentaten. Zwar sei bei dem Anschlag in Paris eine Karikatur des Propheten Mohammed Anlass für die Tat gewesen, sagt er. Doch die Ursachen lägen tiefer. „Der politische Islam verbreitet bewusst antiwestliche Ideologien und verhindert, dass sich muslimische Jugendliche mit den europäischen Gesellschaften, in denen sie leben, identifizieren“, sagt Khorchide.
Gefährliche Kette
Der in Beirut geborene und in Österreich ausgebildete Religionssoziologe hat beobachtet, wie eine fundamentalistische Lesart des Islams in den vergangenen Jahren tiefe Wurzeln in zahlreichen muslimischen Gemeinden Europas geschlagen hat. In den jungen Männern, die zu Tätern und Terroristen wurden und werden, sieht Khorchide nur „das letzte Glied einer gefährlichen Kette“.
Für eine Dokumentationsstelle "Politischer Islam"
Gemeinsam mit dem CDU-Politiker Carsten Linnemann, Migrationsforscher Ruud Koopmans, dem Extremismus-Experten Ahmad Mansour, der Berliner Rechtsanwältin Seyran Ateş und anderen Islam-Kennern hat Khorchide kürzlich ein Positionspapier veröffentlicht. Darin machen sich die Unterzeichner für die schnellstmögliche Einrichtung einer Dokumentationsstelle „Politischer Islam“ in Deutschland stark.
In der Stelle sollen nach österreichischem Vorbild Strukturen, Strategien und Finanzwege fundamentalistischer Muslime recherchiert, analysiert und offengelegt werden. „Religiöser Extremismus beginnt nicht erst bei Mord. Er gedeiht in abgeschottet lebenden Milieus, die sich unseren Werten verschließen“, heißt es in dem Papier.
Politiker haben Angst als islamophob zu gelten
Zudem fordern die Autoren die Errichtung von zehn Lehrstühlen an Deutschlands Universitäten zur Erforschung des politischen Islam. Im Bundesinnenministerium müsse darüber hinaus ein Expertenkreis eingerichtet werden, der auf Grundlage der Erkenntnisse von Wissenschaft und Verfassungsschützern Empfehlungen für den Kampf gegen den Islamismus erarbeitet.
Auch die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass sich die Terrorgefahr in Deutschland stark erhöht hat. Nach Ansicht von Khorchide hat die Politik in Deutschland beim Thema Islamismus zu lange weggeschaut – anders als in Österreich, wo der politische Islam inzwischen erforscht wird. In Deutschland gebe es eine starke Tendenz zur Selbstzensur: „Viele Politiker haben Angst, als islamophob abgestempelt zu werden, wenn sie sich mal kritisch äußern.“