Kämpfe in Äthiopien

Versöhnung ist Vergangenheit

Vor zwei Jahren blickte die Welt nach Äthio­pien, als der Ministerpräsident des ost­afrikanischen Landes, Abiy Ahmed, den Friedensnobelpreis erhielt. Er hatte den jahrelangen Konflikt mit dem Nachbarn Eri­trea beendet. Heute ist Äthio­pien erneut in den Schlagzeilen: Der einstige Hoffnungsträger hat einem Teil seiner Landsleute den Krieg erklärt. 

Schon länger rumort es zwischen Äthiopiens mehr als 90 verschiedenen Volksgruppen. Eine für August geplante, aber wegen Covid-19 verschobene Wahl war der Funke, der zu einer Eskalation der Spannungen führte. Premier Abiy hatte die Machthaber in der halb­autonomen Provinz Tigray Anfang November beschuldigt, einen Stützpunkt der Armee angegriffen zu haben. Ihre Truppen hätten auf äthio­pische Soldaten geschossen. 

Ausnahmezustand und Eskalation

„Damit wurde die rote Linie endgültig überschritten”, sagte Abiy. Seine Regierung rief einen sechsmonatigen Ausnahmezustand im Norden Äthio­piens aus und ordnete eine Militäroffensive an. Seitdem eskaliert die Lage in der nördlichen Region zusehends. 

Amnesty International verurteilte ein Massaker in der Stadt Mai-­Kadra, bei dem „vermutlich Hunderte Menschen erstochen oder zu Tode gehackt“ wurden. Bei ihnen habe es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Zivilisten gehandelt. Ministerpräsident Abiy ließ keine Zeit verstreichen, um die „Volks­befreiungsfront von Tigray“ (TPLF) dafür verantwortlich zu machen. Jahrzehntelang hatte die ethnische Minderheit der Tigray Äthiopiens Politik dominiert. 

Reformen gegen Korruption oder zur Verdrängung einer Ethnie?

Das änderte sich 2018 mit Abiys Amtsantritt. Er entließ zahlreiche Beamte und Politiker aus der Volksgruppe. Die Reformen fanden unter dem Banner der Korruptionsbekämpfung statt. Im Norden des Landes wurden sie aber auch so interpretiert, dass die Ethnie aus ihrer traditionellen Machtposition verdrängt werden sollte. Im Streit verließ die TPLF, einst die mächtigste Partei des Landes, 2019 resigniert die Regierungskoalition. 

In diesem angespannten Klima sollte im August gewählt werden. Dann kam Corona. Die Regierung in der Hauptstadt Addis Abeba verschob die Wahlen. Die Regionalregierung in Tigray preschte im September mit dem Urnengang vor. Seither herrscht Eiszeit. Beide Regierungen betrachten einander als illegitim. Gegen mehr als 70 hochrangige Regierungsgegner wurden Haftbefehle erlassen. Abiy dementierte, dass sich die Aktion gezielt gegen die Ethnie der Tigray richte. 

Humanitäre Krise 

Unterdessen droht laut Vereinten Nationen eine „humanitäre Krise“. Zehntausende mussten vor den Kämpfen fliehen. Für Verwundete gebe es keine ausreichende Versorgung, warnte das Internatio­nale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Die stillgelegten Internet- und Telefonleitungen erschwerten nicht nur die Arbeit der Helfer, sondern schürten zusätzlich Angst in der Bevölkerung. Etwa Tausend besorgte Menschen hätten das Rotkreuz-Büro in der Verwaltungsstadt Makelle kontaktiert, um ihre Verwandten ausfindig zu machen. 

„Die Kämpfe dauern an und wir müssen zusehen, wie sich in Äthiopien und darüber hinaus eine vernich­tende humanitäre Krise ausbreitet“, berichtet IKRK-Vertreterin Katia Sorin. Mehr als 30 000 Äthio­pier flohen in den benachbarten Sudan. Weitere 170 000 könnten in den nächsten Wochen folgen, so die Befürchtung. Nach Einschätzung der „International Crisis Group“ könnte die neue Freundschaft zu Äthiopien auch für Eritrea zum Verhängnis werden. Das Land grenzt unmittelbar an die Unruheregion. 

Äthiopien bis vor Kurzem Zukunftsland

Noch bis vor Kurzem galt Äthiopien als afrikanisches Zukunftsland: ein Reformer an der Macht, eine blühende Wirtschaft und Frieden mit den Nachbarn. Semir Yusuf, Politologe am Institut für Sicherheitsstudien in Addis Abeba, weiß jedoch, was die Stabilität gefährde: „ethnischer Nationalismus“. Dieser sei in den vergangenen Jahren gewachsen und bedrohe im Vielvölker­staat den Zusammenhalt. Erst im Juli entluden sich die Spannungen in tagelangen Protesten und Übergriffen. Der beliebte Sänger Hachalu Hundessa, für viele Äthiopier ein Volksheld, wurde von unbekannten Tätern erschossen. Bei den darauffolgenden Protesten starben mindestens 160 Menschen.

Bischöfe rufen zu Dialog auf

Experten fürchten, der Tigray-­Konflikt könnte nun auch Sezessio­nisten in anderen Landesteilen ermutigen, zur Waffe zu greifen, um sich gegen die Zentralregierung aufzulehnen. Nicht zuletzt deshalb rief die Vereinigung ostafrikanischer Bischofskonferenzen die Kriegstreiber zum Dialog auf. Premier Abiy lehnte Vermittlungsversuche bislang ab. 

„Alles andere wird in einem von ethnischen Allian­zen gezeichneten Politklima vermutlich noch mehr tote Soldaten, noch mehr Blutvergießen unter Zivilisten, die Zerstörung von Besitz und die Vertreibung von Millionen Menschen mit sich bringen“, urteilen die Bischöfe.

Markus Schönherr

24.11.2020 - Afrika , Konflikt , Politik