Neue Biografie zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl

Weiter Weg in den Widerstand

Wohl kein anderes Opfer der NS-Justiz wurde so instrumentalisiert wie Sophie Scholl. Die DDR feierte die 1943 hingerichtete Studentin als sozialistische Widerstandskämpferin gegen den Faschismus. Heute gilt sie als führender Kopf der „Weißen Rose“. Sie war beides nicht, zeigt die neue Biografie von Robert M. Zoske.

Über all der politischen Legendenbildung in Kinofilmen und Büchern ist der Mensch Sophie Scholl weithin in Vergessenheit geraten. Hier setzt Zoskes Biografie „Sophie Scholl: Es reut mich nichts“ an. Das bei Propyläen erschienene „Por­trät einer Widerständigen“ verfolgt Scholls Leben und Nachwirken von ihrer Geburt 1921 über ihren Tod am 22. Februar 1943 hinaus.

100 Jahre würde Sophie Scholl am 9. Mai werden. Vielleicht würde sie noch leben – hätte sie sich nicht entschlossen, sich dem Hitler-Regime anders als Millionen ihrer Altersgenossen friedlich, aber aktiv zu widersetzen: Gemeinsam mit ihrem Bruder Hans, mit Alexander Schmo­rell, Christoph Probst, Willi Graf und Kurt Huber druckte und verteilte sie Flugblätter, die zum Ende von Krieg und Diktatur aufriefen.

Das kostbarste Gut

„Hitler kann den Krieg nicht gewinnen, nur noch verlängern!“, heißt es in den Schriften der „Weißen Rose“, die zu Tausenden mit der Post verschickt oder ausgelegt wurden. „Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen?“ Der „Staat Adolf Hitlers“ müsse den Deutschen ihr „kostbarstes Gut“ zurückgeben, „um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat“: die Freiheit.

Scholl-Biograf Zoske ist Experte für die „Weiße Rose“. Mit „Sophie Scholl: Es reut mich nichts“ legt der evangelische Theologe bereits seine zweite große Monografie zu der studentischen Widerstandsgruppe vor. 2018 erschien seine Biografie „Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose“. 

Unbekanntes Quellenmaterial

Nun hat Zoske sich der wohl bekanntesten Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime gewidmet. Der Forscher konnte auf unbekanntes Quellenmaterial zurückgreifen, etwa auf den Nachlass von Inge Aicher-Scholl, Sophies Schwester. Die Dokumente zeigen die Hingerichtete in einem neuen Licht: als junge Frau, die einen „langen, schmerzhaften Lernprozess“ durchmachen musste. „Ich glaube, ich bin aufgewacht“, schrieb sie 1942.

Es ist Zoskes Verdienst, dass der Leser begreift: Anders als es die auch von Angehörigen betriebene Mythologisierung nach Kriegsende besagt, war Sophie keine Heilige, keine, die den Natio­nalsozialismus von Anfang an ablehnte, die von Beginn an wusste, wohin der verhängnisvolle Weg der braunen Diktatur die Deutschen führen würde. 

Ein ganz normales Mädchen jener Zeit

Nein – das macht Zoskes Buch deutlich: Sophie Scholl war ein ganz normales Mädchen jener Zeit. In eine liberale protestantische Familie aus Württemberg hineingeboren, bekam sie von ihren Eltern ein Welt- und Menschenbild vermittelt, das auf deren christlich-religiöser Orientierung basierte. 

„Gerechtigkeitssinn, Gewissenhaftigkeit, Friedfertigkeit, Nächstenliebe, Verantwortungsbewusstsein, Selbstdisziplin und Opferbereitschaft standen in der Familie hoch im Kurs“, schreibt Zoske. Es waren Werte, die auch der Nazi-Bewegung als „hehre Tugenden“ galten – wenn auch nur für Deutschblütige.„Kein Wunder also, dass die jungen Scholls für die nationalsozialistische Bewegung entflammten.“ 

Ja, Sophie war zunächst fasziniert vom Nationalsozialismus, von seinen Ritualen und Aufmärschen, von der „Volksgemeinschaft“, die er versprach. Das führte nicht selten zu „lautstarken Auseinandersetzungen mit dem Vater“. Robert Scholl, parteiloser Lokalpolitiker mit einer gewissen Zuneigung zur Monarchie, konnte – so Zoske – zeitlebens keine Begeisterung für die demokratische Staatsform entwickeln. Seiner Überzeugung gemäß war sie es, die die Nazis an die Macht gebracht hatte.

Zeit bei Hitlerjugend und BDM

1934 trat Sophie der ­Hitlerjugend (HJ) bei, wurde später Gruppenführerin beim Bund Deutscher Mädel. Bis sie 20 Jahre alt war, blieb sie im BDM, und damit zwei Jahre länger als üblich – für Zoske ein Indiz, dass Sophie bis 1941 noch nicht mit dem NS-System gebrochen hatte.
Die Ideologie war ihr „gleichgültig, aber noch nicht zuwider“.

Umdenken und neue geistige Heimat

Irgendwann muss bei Sophie ein Umdenken eingesetzt haben. War es ihr Konfirmandenunterricht, der erste Zweifel an der vermeintlichen Heilslehre der Nazis säte? Auch der Kriegsbeginn 1939 mag eine Etappe gewesen sein, erst recht Sophies deprimierender Pflichteinsatz für den Reichsarbeitsdienst.

Christliche Brief- und Gesprächspartner gaben ihr eine neue geistige Heimat. Immer öfter zeigte sich ihr „Heimweh nach Gott“. Und während die Anti-Nazi-Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen durch Flugblätter der Alliierten zigfache Verbreitung fanden, fand sich Sophie Scholl bereit für den letzten Schritt: den in den aktiven Widerstand.

Keine treibende Kraft

Ihre Entwicklung kennt man von anderen NS-Gegnern: etwa von Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Eine Entwicklung, die Sophie Scholl während des Studiums in München 1942 zur „Weißen Rose“ brachte. Deren zentrale Figur allerdings war nicht Sophie. Dazu hat sie erst die Nachwelt gemacht. Treibende Kraft war Hans, betont Zoske.

„Ich bin der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte.“ – Diese Aussage aus dem Protokoll von Sophies Vernehmung durch die Gestapo, von Zoske an den Beginn seiner rund 450 Seiten umfassenden Fleißarbeit gestellt, zeigt, wie sehr die junge Frau sich gewandelt hat.

Aus der NS-Mitläuferin wurde eine überzeugte Regime-Gegnerin, eine Kämpferin, die nichts bereute. Eine, die bereit war, ihr Leben zu geben. Eine, die erkannte, dass die braune Ideologie den Deutschen zwar das Heil versprochen, stattdessen aber die Abgründe einer unheiligen Gewaltherrschaft gebracht hatte. Vielleicht macht gerade das sie zum Vorbild.

Thorsten Fels

Buchinformation

Robert M. Zoske; Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen. ISBN: 978-3-549-10018-9; 24 Euro

18.02.2021 - Bücher , NS-Zeit , Widerstand