Predigt zum Hochfest der hl. Afra in der Basilika St. Ulrich und Afra am 9. August 2020 von Bischof Bertram Meier

Edith Stein: eine Afra des 20. Jahrhunderts

Eine große Freude wurde dem damals scheidenden Pfarrer von St. Ulrich und Afra 2013 zuteil: Am Afrafest wurde in feierlicher Prozession ein Reliquiar mit einem kleinen Stoffstück aus dem Schleier, den Edith Stein bei ihrer Einkleidung zur Karmelitin im April 1934 trug, zur Verehrung in die Michaelskapelle gebracht. Es stammt vom Augsburger Künstler Martin Ziegelmayr, der das Reliquiar in Form einer KZ-Baracke gestaltet hat. Die hl. Edith Stein ist eine „Afra des 20. Jahrhunderts“: Beide Frauen waren „burning persons“, Zeuginnen, die für Jesus und sein Evangelium brannten. 

„Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht". Edith Stein schrieb diesen Satz anlässlich des Todes ihres großen philosophischen Lehrers Edmund Husserl, der als Jude starb. Sie hätte ihn auch als Überschrift über ihr eigenes Leben setzen können. Es ist nicht übertrieben, Edith Stein in die Reihe jener großen Wahrheitssucher zu stellen, die mit Augustinus sagen können: „O veritas, o veritas, quam intime medullae animi mei suspirabant tibi". „O Wahrheit, o Wahrheit, wie sehnsüchtig verlangten die Tiefen meiner Seele nach dir."

Bei Edith Stein zeigen sich die Suche nach der Wahrheit und die damit verbundene Liebe zur Wahrhaftigkeit bereits als Dreizehnjährige. Das junge Mädchen, von einer streng gläubigen jüdischen Mutter erzogen, aber geistig ungemein aufgeweckt, hochintelligent, vielleicht etwas verträumt mit einem leisen Hang zur Einsamkeit, bekommt plötzlich Zweifel am jüdischen Gottesbild. Edith möchte selbstständig sein. In dieser Zeit der Pubertät gewöhnt sie sich, wie sie später bekennt, bewusst das Beten ab. Zwischen ihrem 13. und 21. Lebensjahr erklärt sie sich als Atheistin. Eines muss man ihr lassen: Edith ist wahrhaftig vor sich selbst.

In ihrer Heimatstadt Breslau beginnt sie mit dem Studium der Psychologie, das sie aber unbefriedigt lässt, weil es zu empirisch sei. Die suchende junge Frau bleibt der Wahrheit auf der Spur. Sie hört zum ersten Mal den Namen Edmund Husserl. Dieser hatte damals, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Geisteswelt inAufregung versetzt mit seinem Aufruf: „Zurück zu den Sachen selbst!" Damit steht er für die Strömung der Phänomenologie. Er löst ein gewaltiges Echo aus als befreiende Gegenreaktion auf die vorherrschendenimmanentistischen Theorien des Psychologismus und Idealismus - ein Echoübrigens, das auch in der Philosophie und im Menschenbild von Papst Johannes Paul II. nachhallt.

Edith Stein war von der Lehre Husserls so begeistert, dass sie kurz entschlossen nach Göttingen geht, wo der Philosoph lehrt. Sie trifft dort auf einen Kreis großer Phänomenologen: Husserl, Scheler, Reinach und manch anderen, mit dem sie sich auf die Wahrheitssuche macht und den sie als bohrende Gesprächspartnerin provoziert. Eine ganz neue Welt tut sich ihr auf. Sie spürt: Hier wird wirklich gesucht nach der Wahrheit in allen Dingen. Die Suche nach der Wahrheit fesselt sie. Das philosophische Fragen zieht sie in Bann. Sie promoviert und wird Husserls Assistentin. Manche Kommilitonen spotteten: „Manches Mädchen träumt von Busserl, doch Edith nur von Husserl.“ Eine Habilitation scheitert daran, dass sie Frau ist. Diese Absage zu verkraften, fiel der jungen Frau sicher nicht leicht, zumal sie nicht nur einen scharfen Verstand hatte, sondern sensibel war, aber auch selbstbewusst, mit eiserner Willenskraft ebenso ausgestattet wie mit einem mitunter zum Übereifer gesteigerten Ehrgeiz.

Auch wenn ihr die rein akademische Karriere in ihrer Zeit verbaut blieb, hat diese Erfahrung sie weder verbittert noch verbiestert gemacht. Im Gegenteil: Die Suche nach der Wahrheit wurde noch intensiver, noch reiner und klarer. Denn sie spürt: Es fehlt noch etwas. Ich habe die volle Wahrheit noch nicht gefunden. Die Philosophie ist nicht die letzte Wahrheit.

Da hinein platzt ein Ereignis im August 1921 (sie ist 30 Jahre alt). Edith ist zu Gast bei der befreundeten Familie Conrad-Martius, um am Abend deren Haus zu hüten. Wahllos nimmt sie ein Buch aus dem Regal mit dem Titel „Das Leben der hl. Teresa von Avila": „Ich begann zu lesen, war sofort gefangen und hörte nicht mehr auf bis zum Ende. Als ich das Buch schloss, sagte ich mir: ,Das ist die Wahrheit'."

Über Nacht hat Edith gefunden, was sie so viele Jahre gesucht hatte: die Wahrheit in der Form des katholischen Glaubens. Sie war sich auf einmal sicher: Christus ist die Wahrheit, die ewige Weisheit Gottes; und diese Wahrheit ist in die Welt gekommen und wird Mensch unter Menschen. Jahre später, als sie einmal nach der Christmette früh morgens vor der Krippe kniend angetroffen und erschrocken gefragt wird, ob sie gar nicht geschlafen habe, gibt sie eine Antwort, die alles sagt: „Wer kann schlafen in einer Nacht, in der Gott Mensch wurde?" 

Der Advent hat sich für Edith Stein erfüllt. Sie hat die zutiefst gesuchte Wahrheit gefunden: im Mensch gewordenen Gott. Auf ihn richtet sie jetzt ihr Leben aus. Sie will Karmelitin werden, wovon man ihr aber zunächst abrät. Berufung braucht Zeit. Geistliche Entscheidungen müssen wachsen. So macht sie erst 11 Jahre später den Schritt, ihr ganzes Leben Gott zu weihen. Als 42-jährige tritt sie in den Kölner Karmel ein.

Von jetzt an erfährt ihr Leben eine gewisse Wende. Nicht mehr Edith Stein sucht die Wahrheit; die lang ersehnte und gesuchte, endlich gefundene Wahrheit nimmt nun ihrerseits Edith immer mehr in Anspruch. Die Wahrheit wird für Edith immer deutlicher zum sie bestimmenden Kreuz. Die Wahrheitsfrage spitzt sich zu im Kreuzweg. Edith Stein hat sich nicht mit intellektuellem Gerede begnügt, sondern eine Verleiblichung des Evangeliums in Leiden und Sühne dargestellt.

Edith war und blieb Jüdin, auch als Christin. Sie sagt einmal zu Pater Hirschmann SJ, ihrem geistlichen Begleiter: „Sie glauben nicht, was es für mich bedeutet, Tochter des auserwählten Volkes zu sein, nicht nur geistig, sondern auch blutsmäßig zu Christus zu gehören!". Sie fühlt sich ganz zu Christus gehörig; das bedeutet aber auch, Anteil zu haben an seinem Kreuz.

Dass die Entscheidung für Christus auch persönlich einschneidet wie die Ecken und Kanten des Kreuzes, hat Edith zuerst gespürt an ihrer eigenen Mutter. Sie, die Lieblingstochter, musste es irgendwann einmal ihrer strenggläubigen jüdischen Mutter eröffnen: Ich habe konvertiert. Edith wusste, was es für die Mutter bedeuten würde. Als die Tochter vor der Mutter kniet und ihr schlicht die Wahrheit sagt: „Mutter, ich bin katholisch", hat sie das Gefühl: Hier vollzieht sich im Kleinen die große Tragik des jüdischen Volkes: „Es hat Ihn (den Messias) nicht erkannt, es hat nicht an Ihn geglaubt." „Ich glaube ja auch, dass er ein guter Mensch war, antwortet ihr die Mutter weinend, „aber warum musste er sich zum Sohn Gottes machen?" Edith wird von ihrer geliebten Familie nicht verstanden. Diese Ferne bleibt immer ein Schmerz, ein wirkliches Kreuz für sie. Nur ihre Schwester Rosa konvertiert und folgt Edith nach dem Tod der Mutter in den Karmel nach.

Ediths weiteres Kreuz ist bekannt. Schon vor ihrem Eintritt in den Kölner Karmel (1933), als sie viel vor der Schmerzensmutter in Beuron betete, hat sie die Vorahnung eines unbegreiflichen Kreuzes, das dem jüdischen Volk bevorsteht. Sie weiß, dass dieses Kreuz auch auf sie zukommen kann. Sie will es bewusst tragen für ihr geliebtes Volk. 1939 muss sie nach Echt in Holland fliehen. Aber auch hier wird die Lage immer brenzliger. Eine Ausreise in die Schweiz scheitert daran, dass Edith nicht ohne ihre Schwester Rosa gehen will, die Schweiz aber nur einen Platz zur Verfügung stellt. Wenige Monate vor ihrer Deportation notiert sie: „Eine ,scientia crucis' kann man nur gewinnen, wenn man das Kreuz gründlich zu spüren bekommt. Davon war ich vom ersten Augenblick an überzeugt und habe von Herzen ,Ave Crux, Spes Unica!' gesagt." Sei gegrüßt, Kreuz, meine einzige Hoffnung!

Am 7. August 1942 wird die angefangene „Kreuzeswissenschaft" zum Ernstfall: Ohne Vorwarnung wird Edith Stein eines Nachmittags von der Gestapo aus dem Kloster geholt und in einem Viehwaggon Richtung Osten abtransportiert. „Komm, wir gehen für unser Volk", soll Edith ihrer wie versteinert dastehendenSchwester Rosa beim Verlassen des Karmels gesagt haben. Nach der amtlichen Mitteilung des Niederländischen Roten Kreuzes wurden beide am 9. August 1942, wahrscheinlich in Auschwitz-Birkenau, vergast. In dieser Hölle der Menschenverachtung endet das Leben der Edith Stein, die den Ordensnamen trug: Sr. Teresia a Cruce Benedicta, das heißt übersetzt: Schwester Teresia, die vom Kreuz Gesegnete. Das letzte Lebenszeichen ist ein Zettel, den man auf dem Bahnhof in Schifferstadt fand. Darauf stand aus ihrer Feder zu lesen: „Ad orientem". In den Osten.

Wie Edith Stein gestorben ist, ob auch sie, deren lebenslange Wahrhaftigkeit durch das Finden der Wahrheit belohnt wurde, noch durch eine Nacht der Gottverlassenheit gehen musste, weiß man nicht. Aber die Worte „Ad orientem" deuten darauf hin, dass es für sie nicht nur geographisch in den Osten ging, sondern dass sie eine Ahnung hatte von dem neuen Horizont, der sich im Osten auftat, wie schon viele Jahrhunderte zuvor, als im Osten ein Stern aufgestiegen war, dem drei Männer folgten, um sich auf die Suche nach der Wahrheit zu machen.

Ich frage mich, was uns diese große Frau sagen würde, wenn sie vor uns stünde - denen, die wissenschaftlich arbeiten, theologisch forschen, als Christen ihr Leben gestalten oder den Weg der besonderen Nachfolge Christi gehen. Ich kann mir vorstellen, dass sie uns vor allem Eines ans Herz legen würde: Ihr sollt suchen!

Werdet immer mehr Suchende nach der Wahrheit!

Seid wahrhaftig in eurem Reden und glaubwürdig in eurem Tun!

Lest und studiert, aber stellt dabei bewusst die Wahrheitsfrage!

Lernt nicht nur theologische Meinungen auswendig, die ihr dann in konservative oder progressive, in traditionalistische oder liberale, in zeit- oder freigeistige einzuteilen wisst, sondern werdet wesentlich!

Legt euch fest auf die einmal erkannte Wahrheit, auf die Wahrheit, die im Kind von Bethlehem Mensch geworden ist. Sucht sie treu und beständig, wie die drei Weisen, die nach einem langen Weg den Sohn Gottes fanden: Lasst euch wie sie vom Stern zu ihm führen, und nähert euch ihm kniend und anbetend. Werdet betende Theologen und Priester! Jesus wünscht sich weder eine schlafende noch eine nur diskutierende Kirche, sondern eine, die seinem Wort lauscht und sich vor der Wahrheit beugt.

Wundert euch nicht, wenn euch manche Herberge dieser Welt verschlossen bleibt, wenn ihr nicht überall ankommt, wenn dieses Kind euch Anteil an seinem Kreuz gibt. Sagt ja dazu, wie es auch seine Mutter getan hat. An Maria hat Edith Stein Maß genommen. Das Ja zu Krippe und Kreuz wird euch zum Segen sein. 

In einem Gedicht aus dem Jahr 1939 fasst Edith Stein den größeren Advent in seinem Ernst zusammen:

Es tritt der Herr der Kelter

Und rot ist sein Gewand.

Er fegt mit eisernem Besen

Gewaltig über das Land.

Er kündet in Sturmesbrausen

Sein letztes Kommen an.

Wir hören das mächtige Sausen.

Der Vater allein weiß das Wann.

10.08.2020 - Bischöfe , Gottesdienst