Predigt von Bischof Bertram Meier zur Wiedereröffnung der Kirche St. Leonhard in Pfaffenhofen/Roth

Im Boot der Kirche zweifeln dürfen und glauben lernen

Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen eine Frage stelle: Können Sie schwimmen? Die Wasserratten unter Ihnen werden antworten: „Nichts ist leichter als das. Nichts ist schöner und gesünder.“ Andere werden wohl etwas verlegen: „In tiefes Wasser möchte ich nicht gehen. Ich brauche einen festen Grund unter meinen Füßen. Wenn ich nicht stehen kann, bekomme ich Angst.“

Können Sie über das Wasser gehen? Wie Jesus in der Geschichte, die uns Matthäus aufgeschrieben hat, oder wie Petrus, der es ihm nachmachen will? Sie alle werden zugeben: „Das kann ich nicht. Wasser hat doch keine Balken.“

Eine letzte Frage: Können Sie glauben? Können Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen – um eines Menschen willen, um Gottes willen – im Vertrauen darauf, dass das Lebenswasser trägt? Auch wenn Ihnen die Wellen bis zum Hals stehen?

Im heutigen Evangelium werden wir Zeugen, wie Jesus seine Schüler in die Glaubensschule nimmt. Er gibt gleichsam einen Schwimmkurs auf dem Lebenswasser. Aus einer Angstgeschichte wird eine Glaubensgeschichte.

Soeben hat Jesus fünftausend Männer mit ihren Familien gespeist: ein großer „Glaubens-Event“, mindestens so eindrucksvoll wie der Weltjugendtag. Für alle hat es Brot und Fisch gegeben - gratis! Ganz zu schweigen von den Worten, die Jesus dazu sprach aus dem Leben für das Leben. Das zündete und begeisterte! Nach dieser Großveranstaltung für die breite Öffentlichkeit schickt Jesus seine Jünger weg. Sie sollen mit dem Boot vorausfahren. Jesus nötigt sie sogar, ins Boot zu steigen. Sie tun, wozu Jesus sie auffordert, und stechen in See. Da kommt ein Sturm auf. Das Boot wird von den Wellen hin- und hergeworfen. Eine ungemütliche Lage, doch damit nicht genug: In der vierten Nachtwache, am frühen Morgen zwischen drei und sechs Uhr, sehen sie auf dem Wasser eine Gestalt daherkommen. Ihre Angst steigert sich. Sie schreien auf vor Angst – und das bei gestandenen Männern, Fischern und Zöllnern, normalerweise keine Angsthasen. Sie meinen, ein Gespenst zu sehen. Doch dann eine vertraute Stimme: „Habt Mut, ich bin es, fürchtet euch nicht“. Es ist Jesus, ihr Freund und Meister. Es ist Jesus, der Herr.

Es ist Jesus, unser Herr, der Herr der Kirche. Denn oft ist bei den Evangelisten das Boot ein Bild für die Kirche. Die Männer am Ruder haben Angst, damals wie heute, im Großen wie im Kleinen. An Jesus glauben, an Ihm das persönliche Leben festmachen bedeutet keine Existenz auf sanften Ruhekissen. Im Gegenteil: Der Kurs der Kirche führt über die stürmische See. Diese Erfahrung ist nicht erst heute ein Thema. Mit Krise und Verunsicherung sind zwei Schlagworte genannt, die auch uns heute treffen. Vermutlich ist es nicht falsch zu behaupten, der Glaube vieler Menschen stecke in einer Krise. Für mich überhaupt kein Grund, um im Boot der Kirche Untergangsstimmung zu schüren? Ich frage mich umgekehrt: Hat es in der Kirche jemals eine Zeit gegeben ohne Glaubenskrise? Streuen wir uns nicht Sand in die Augen, wenn wir von der guten alten Zeit träumen und nicht daran denken, dass auch jene glorifizierten Tage einmal schlechte neue Zeiten waren? Kann ich die Menschen von heute, kritische Kinder unserer Zeit, zum Glauben und zur Nachfolge bewegen, wenn ich fortwährend nur den Bärenstarken und den Felsenfesten spiele? Wäre es nicht glaubwürdiger, wenn ich einen fragenden und suchenden Menschen auch an meinen eigenen Zweifeln teilnehmen ließe?

Nur wenn wir im Boot der Kirche auch zweifeln dürfen, werden wir im selben Boot der Kirche auch wieder glauben und vertrauen lernen. Doch solange in der Kirche und in unseren Gemeinden äußere Ruhe und Stillschweigen als erste Bürgerpflicht gelten, sind unsichere Leute verdächtig. Wir wissen selbst, wohin uns gespielte Selbstsicherheit und Vertuschung geführt haben. Deshalb sollten wir uns „ehrlich machen“, einen Schlussstrich ziehen unter unser „Kulissen­christentum“!

Besuchen wir die Glaubensschule Jesu: Der Herr fordert seine Jünger auf, mit dem Boot hinauszufahren - ohne ihn! Hat Jesus den Jüngern, die allein auf das Wasser hinausgefahren sind, dafür einen Vorwurf gemacht? Oder hat er sie nicht bewusst hinausgeschickt in die Krise des Unwetters - und sie eben nicht am sicheren Ufer zurückbehalten mit harmlosen Leuten auf der Tourismusterrasse? Unser Weg in der Nachfolge Christi ist keine bequeme „Sightseeing-Tour“, sondern eine durchaus abenteuerliche Safari, keine romantische Kreuzfahrt, sondern mitunter ein anstrengender Kreuzweg. Dass es bei solchen Expeditionen auch zu Krisen kommen kann, liegt auf der Hand. Deshalb macht Jesus keinem einen Vorwurf. Wenn er jemandem etwas vorzuwerfen hätte, dann höchstens uns: dass es uns an Mut und Gottvertrauen fehlt; dass wir „kleingläubig“ sind. Unser Kleinglaube belastet die Kirche und unsere Gemeinschaften.

Deshalb ist jede Krise auch eine Chance. Ich wage die Behauptung: Auch unsere Zeit ist Gottes so voll. Wir müssen uns nur auf Spurensuche begeben. Dann werden wir ihn finden: allerdings nicht auf dem Sofa, sondern in Bewegung. Jesus kommt denen zu Hilfe, die es gewagt haben, die Anker zu lichten und in See zu stechen. Er hält es nicht mit denen, die aus der Ferne genüsslich zusehen, wie das Boot in Seenot gerät und eifrig damit beschäftigt sind, Sündenböcke zu suchen. Er steht zu denen, die den Aufbruch wagen zum anderen Ufer. „Habt Mut, ich bin es, fürchtet euch nicht!“

Sie, liebe Pfaffenhofener und Ihre Vorfahren, haben sich ins Boot gesetzt, um auf den See hinauszufahren. Seit vielen Jahrhunderten durchquert Ihr Boot das Meer der Zeit; auch wenn wir hier statt des Meeres besser von der Roth sprechen müssen. Doch es geht weniger ums Wasser, als ums Boot: ein buntes Boot mit vielen Charakteren, Generationen und Richtungen. Da sind treue Matrosinnen, entschlossene Steuermänner und auch schüchterne Passagiere, die gern einmal abtauchen und sich lieber unter Deck aufhalten. Keine leichte Aufgabe für den, der am Ruder ist und den Kurs bestimmen soll, zumal die Mehrheit der Mannschaft in die Jahre gekommen ist und es zudem an jungen Kräften fehlt. Jedenfalls muss ich Ihrem Steuermann bescheinigen: Reinfried, du hast es gut gemacht in Pfaffenhofen! Du hast die Richtung gehalten und viele für den Kurs der Mitte gewinnen können. Du besteigst nun bald ein neues Schiff in Augsburg, das unter der Flagge der Evangelisierung steht. Und dein kleines Beiboot ist die Pfarrei Horgau. Wenn das kein gutes Omen ist, um die Anker zu lichten: von St. Martin Pfaffenhofen zu St. Martin Horgau! Schon jetzt wünsche ich dir als Bischof und Kapitän der Flotte von Augsburg: Schiff ahoj!

Werfen wir am Ende noch einen Blick in die Fassung des Evangeliums, wie es uns Matthäus überliefert. Der Petrus, der Käpt‘n vom galiläischen Meer, will aus dem Boot aussteigen und übers Wasser gehen. Was Petrus, den Fischer am See, zu diesem kühnen Einfall bewogen hat, wissen wir nicht: Jedenfalls zeigt er sich wieder einmal als spontaner Heißsporn und Hitzkopf, der auf dem See eine „Extra-Wurst“ gebraten haben will. Er verlässt das Boot, obwohl es weht und windet. Er steigt aus der Gemeinschaft aus, um seinen eigenen Weg zu gehen. Er sagt, er wolle zu Jesus, doch eigentlich will er sich selbst profilieren: „Ich brauche das Boot nicht. Das Boot bin ich selbst. Den altbackenen Freunden werde ich’s schon zeigen: Ich komme selbst über das Wasser.“

Stattdessen kommt Petrus in Seenot. Er überfordert sich. Die Großspurigkeit seiner Worte verbirgt nur die Kleingläubigkeit seines Herzens. Doch Jesus lässt Petrus nicht fallen – trotz allem. Er streckt dem, der den Mund so voll genommen hat, seine rettende Hand entgegen. Jesus hört den Schrei der Not: Herr, rette mich! Darin liegt die Lektion, die Jesus dem Petrus in seiner Glaubensschule auf hoher See erteilt: Nicht durch dein eigenes Rudern, nicht durch deine eigenen verwegenen Pläne, nicht durch den Eigenentwurf deines Lebens wirst du zu mir kommen, sondern indem du dich mir anvertraust und die Kraft deiner Arme in meine guten Hände legst.

Es spricht für sich, wie das Evangelium endet: Erst als Jesus und Petrus gemeinsam ins Boot gestiegen sind, legt sich der Wind (vgl. Mt 14,32). Petrus macht kein Experiment mehr ohne die Gemeinschaft. Wenn der Glaube tragen soll, braucht er den Halt der Gemeinschaft. Wir spüren, dass wir in stürmischen Zeiten nicht allein unseren Weg gehen können, sondern dass wir sicherer sind im Boot der Kirche. Auch im Kirchenschiff kann es Lagerkoller geben, Stress und Streit, manche werden auch seekrankt. Trotzdem oder gerade deshalb kehrt Petrus, der Aussteiger, gern wieder in das Boot zurück, das Schutz und festen Stand schenkt, vor allem, wenn Jesus selbst mit von der Partie ist. Danken wir dem Herrn, dessen Worte bis heute Wegweiser für den Kurs der Kirche sind. Und denken wir immer wieder daran, dass wir in einem Boot sitzen mit anderen, die uns gernhaben und gerade in stürmischen Zeiten unsere Berufung als treue Begleiter und Freunde mittragen.

Petrus wäre fast ertrunken, weil er sich zu stark mit sich selbst beschäftigt und zu wenig auf Jesus Christus geschaut hat. Ich wünsche Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, einen treuen Begleiter im Glauben, wo Sie sich fallen lassen dürfen im Wissen darum, nicht fallen gelassen zu sein. Genau das ist Kirche: gemeinsam in einem Boot sitzen und dabei spüren, dass das Lebenswasser trägt.

05.07.2021 - Bistum Augsburg