Predigt des Bischofs Dr. Bertram Meier in St. Ulrich Seeg

Das Ulrichsjubiläum als Impuls für das „Apostolat des Ohres“

Predigt des Bischofs Dr. Bertram Meier
in St. Ulrich Seeg am Freitag, den 28. Oktober 2022

Was bedeutet für Sie Audi? Die meisten werden sagen: Das ist doch klar, ich fahre einen Audi. Doch wer weiß schon, was hinter der Marke Audi steckt? Es ist ein Name: Ein gewisser August Horch, aus einer fränkischen Winzerfamilie gebürtig und studierter Maschinenbauingenieur, gründete um 1910 eine Autofirma, die heute Audi heißt. Übrigens machte August Horch nie den Führerschein, dennoch hörte er auf die „Zeichen der Zeit“: Mobilität war angesagt. Die junge Firma Horch hatte das Ohr am Puls der Zeit. Horch fing an mit einem dreirädrigen Hochrad, heute wirbt Audi mit dem Slogan „Fortschritt durch Technik“. Doch zurück zum Namen: Audi kommt vom Lateinischen und heißt auf Deutsch: Horch, höre!

Damit sind wir mitten im Motto, das über dem großen Ulrichdoppeljubiläum steht: Mit dem Ohr des Herzens hören. Um das Hören soll es gehen. Was wir doch nicht alles hören! Was da nicht alles auf uns einströmt! Nachrichten und Informationen rund um die Uhr. Newsletter, Social Media und Internet. So viele Stimmen, Meinungen und Statements: Welche ist richtig? Was sind nur Fake-News? Wo lassen wir uns täuschen?

Wir sehen und hören viel … Aber hören wir auch wirklich zu? Die Corona-Pandemie, der russische Überfall auf die Ukraine und der daraus folgende Krieg, Angst vor Inflation und Rezession, Knappheit von Gas, Energie und Strom: Dies und vieles andere mehr nimmt uns mächtig in Beschlag. Es hat uns im Griff. Die Stimmung pendelt zwischen Depression und Aggression. Da verschwindet plötzlich anderes, sonst scheinbar wichtig Stimmengewirr, das unsere Ohren und Herzen zustopft.

Menschen in existentiellen Notlagen rücken auf einmal ins Zentrum, global, europäisch, deutsch und auch hier bei uns vor Ort in Bayern. Wir merken: Es reicht nicht, den schwäbischen Schrebergarten zu pflegen. Die Kirchturmpolitik allein kann es nicht sein. Jetzt haben wir eine große Chance: Wir können die oft kleinkarierten Muster unseres Glaubens und Denkens überwinden, die Weite und Tiefe des Lebens aufspüren; ja, wir müssen über unsere eigenen Grenzen hinauswachsen.

Der hl. Ulrich war ein solcher Mensch, den es nicht in Wittislingen, Dillingen und St. Gallen gehalten hat. Er ist immer wieder über die Alpen nach Rom gereist – weniger um die kulinarischen Spezialitäten zu genießen, sondern um sich an den Gräbern der Apostelfürsten Petrus und Paulus geistlich zu stärken: Der Papst war für seinen Hirtendienst Direktion und Inspiration, der Nachfolger Petri gab seinem Dienst als Bischof von Augsburg Richtung und Weisung. Auch sonst war der hl. Ulrich viel unterwegs. Er wirkte als Reisender in Sachen Christus. Wo immer er hinkam, war Ulrich zunächst einmal ein Hörender. Er hörte auf die Nöte seiner Diözesanen. Auf seinen Reisen gab es stets eine Armenspeisung. Im Bistum hörte er auf die Anliegen seiner Priester und hielt Synoden ab, bei denen er sich über wichtige Fragen der Seelsorge und der Liturgie beriet.

Ein berühmter Arzt, der gewohnt war, seelische Wunden zu heilen, wurde mit der Frage konfrontiert, was denn das größte Bedürfnis der Menschen sei. Er antwortete: „der grenzenlose Wunsch, gehört zu werden“, Gehör zu finden, auf ein offenes Ohr zu stoßen. Ein Wunsch, der häufig verborgen bleibt, der aber jeden herausfordert, der berufen ist, Erzieher oder Ausbilder zu sein, oder der auf je eigene Weise die Rolle eines Kommunikators hat: Eltern und Lehrer, Hirten und pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Informationsfachleute und die vielen, die im sozialen und politischen Bereich tätig sind.

Aus der Bibel lernen wir, dass Hören nicht nur die Bedeutung einer akustischen Wahrnehmung hat. Hören ist wesentlich verbunden mit der dialogischen Beziehung zwischen Gott und Mensch. Das erste Gebot in der Bibel fängt mit den Worten an: Schma Israel! Horch Israel! Israel höre! – Die Initiative liegt bei Gott, nicht bei uns Menschen, die wir selbst gern das große Wort führen und andere mit unseren Worten mitunter „zumüllen“. Das Hören entspricht dem demütigen Stil Gottes. Es ist jenes Handeln, das Gott erlaubt, sich als der zu offenbaren, der im Sprechen den Menschen nach seinem Bild schafft und ihn im Hören als Gesprächspartner anerkennt. Gott hat uns Menschen gern. Deshalb richtet er sein Wort an uns. Er „neigt sein Ohr“ uns zu, um uns anzuhören. Wenn Gott schweigt und zuhört, dann hat der Mensch das Wort. Dann betet er.

Schauen wir auf uns! Wir alle haben Ohren, aber auch dem, der ein perfektes Gehör hat, gelingt es zuweilen nicht, dem anderen zuzuhören und ihn oder sie anzuhören. Es gibt eine innere Taubheit, die schlimmer ist als die Schwäche der Sinnesorgane. Denn der wahre Sitz des Hörens ist das Herz. König Salomo erwies sich – obwohl er noch sehr jung war – als weise, weil er den Herrn bat, ihm ein „hörendes Herz“ zu schenken (1 Kön 3,9). Auch der hl. Augustinus verbindet Ohren und Herz. Er wünscht sich, mit dem Herzen zu hören (corde audire), die Worte nicht nur mit den Ohren aufzunehmen, sondern geistig im Herzen zu wägen: „Habt nicht das Herz in den Ohren, sondern die Ohren im Herzen!“ Und Franz von Assisi mahnte seine Minderbrüder: „Neigt das Ohr eures Herzens.“

Mit dem heutigen Gottesdienst machen wir uns ganz offiziell auf den Weg zu unserem großen Jubiläumsjahr. Ich wünsche mir für unser Bistum, dass wir immer mehr zu einer hörenden Kirche werden. Gerade im Hinblick auf den Synodalen Weg, auf dem wir uns in Deutschland befinden, wird es wichtig sein, einander wohlwollend zuzuhören, einander mit den jeweiligen Wünschen und Sorgen anzuhören und vor allem unser Ohr dem Wort Gottes zuzuneigen.

Papst Franziskus findet es „traurig, wenn sich auch in der Kirche ideologische Lager bilden, das Zuhören verschwindet und fruchtlose Opposition an seine Stelle tritt.“ Im Blick auf die Methode für gutes, aufmerksames Zuhören möchte ich den evangelischen Theologen und NS-Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) zitieren: „Mit den Ohren Gottes sollen wir hören, damit wir mit dem Worte Gottes reden können.“ Und Bonhoeffer fährt fort: „Wer seinem Bruder (oder seiner Schwester) nicht zuhören kann, der wird auch bald Gott nicht mehr zuhören können.“

Gott bewahre uns vor der Taubheit gegenüber der Stimme Gottes! Synodale Kirche fängt dort an, wo wir wieder anfangen, einander das Ohr zu schenken – nicht um uns zu belauschen oder auszuhören, geschweige denn uns gegenseitig zu verhören, sondern damit wir uns im Hören bestärken und trösten. Als Bischof bin ich dankbar für die vielen, die ich hören darf, für die Gremien, die mir ehrliche Resonanzgruppen sind und mich beraten, für die Teams, die mir ein Echo geben. Ohne engagierte Frauen und Männer, die mir auf Augenhöhe begegnen, könnte ich meinen Dienst als Oberhirte nicht tun. Ich bitte aber auch um Verständnis, dass ich mir nicht alles, was mir gesagt und geraten wird, zu Eigen machen kann. Ein Bischof hört viel, aber die erste Instanz, deren Stimme bei seinen Entscheiden Gewicht haben muss, sind das Wort Gottes und das Gewissen, das ihm eingepflanzt ist. Ich will mit dem Herzen hören – auf Gott und auf die Gläubigen. Und ich verspreche allen, die meiner Seelsorge anvertraut sind: Gern schließe ich mich der Bitte des Königs Salomo an: Herr, schenke Deinem Diener Bertram ein hörendes Herz. Umgekehrt erwarte ich mir die Tugend der Diskretion: Beratung macht nur Sinn, wenn sie sich paart mit Verschwiegenheit. Die lässt mitunter sehr zu wünschen übrig. Viele können nicht schweigen und wundern sich dann, wenn sie nicht mehr gehört werden. Und wohlgemerkt: Mancher, bei dem ich Rat einhole, merkt vielleicht gar nicht, dass ich ihn um seinen Rat gebeten habe.

Auf diese Weise möchte ich unser Bistum immer mehr zu einer synodalen Diözese formen. Gemeinsam machen wir uns auf einen geistlichen Weg. Gemeinsam gehen wir unser Jubiläum an. Der hl. Ulrich ist uns dabei ein wichtiger Wegweiser. Bitten wir darum, dass durch diesen synodalen Weg, mit dem wir uns als Bistum auf das große Festjahr vorbereiten, unsere Gemeinschaft noch fester und stärker werde. „Denn die Gemeinschaft ist nicht das Resultat von Strategien und Programmen, sondern sie ist aufgebaut auf das gegenseitige Zuhören unter Brüdern und Schwestern.“ Darum geht es: „das Apostolat des Ohres“. Amen.

31.10.2022 - Heilige , Predigt