Predigt von Bischof Bertram Meier bei der Einführung der „Familie Mariens“ in Wigratzbad

Das Kreuz als Siegeszeichen

„Wie hältst du’s mit der Religion?“ Die Gretchenfrage in Goethes Faust findet heute ein besonderes Echo. Es lautet: „Wie hältst du’s mit dem Kreuz?“ Auf dem Konzil stand ein Bischof aus einem armen Land vor dem Mikrofon. Es gab eine Szene, die sich tief einprägte: Er nahm das Kreuz, das er umhängen hatte, in die Hand, schaute es an und rief dann in die Aula des Petersdomes: „Wir tragen alle ein Kreuz auf der Brust. Es wäre besser, wir würden es auf dem Rücken tragen.“

In diese Kirche schleppen viele ihr Kreuz und legen es ab bei der Gottesmutter. Zu „Maria vom Sieg“ blicken sie auf. Bei ihr wissen sie ihr Kreuz gut aufgehoben. Maria hat gesiegt, indem sie selbst ihr Kreuz angenommen hat – bis zum Tod ihres Sohnes auf Golgotha. Auch wenn sie als Mutter – menschlich gesehen – sicher manchmal schlucken musste angesichts ihres Kindes, des Sohnes Gottes, ist sie treu mitgegangen und stehen geblieben, unter den Flügeln des Kreuzes. Das war und ist ihr Sieg bis heute. So rufe ich der Familie Mariens, P. Florian Kerschbaumer, den Mitbrüdern und besonders den Schwestern, die mitarbeiten, zu: Willkommen bei Maria vom Sieg! 

Bei aller Freude über den heutigen Tag müssen wir ehrlich bleiben: Es ist schon ein Kreuz mit dem Kreuz. Wie hältst du’s mit dem Kreuz? Um sich einer Antwort anzunähern, habe ich mir überlegt, wo und wie wir Tag für Tag mit dem Kreuz umgehen; wo es in unserem Leben vorkommt und welche Bedeutung es dann hat.

Da ist zunächst die Geste des Kreuzzeichens. Damit beginnen wir unsere Gottesdienste. Wir sehen Sportler, die sich vor dem Start bekreuzigen. Ist das Bekreuzigen nicht zu einer gedankenlosen, harmlosen Geste geworden? Einigen Kommunionkindern ist dieses Zeichen noch gar nicht geläufig; und es scheint ihnen nichts zu fehlen! Dann gibt es Redensarten, in denen das Kreuz vorkommt – oft einfach dahingesagt: Es ist schon ein Kreuz mit diesem oder jenem ... Schließlich hat das Kreuz seinen festen Platz in unseren Kirchen und vielen Wohnungen, auf Straßen und Feldwegen, (noch) in Behörden und Schulen. Wir kennen Kreuze zur Bestätigung besonderer Verdienste - das Bundesverdienstkreuz – und als Ausdruck spezieller Würden – das Brustkreuz der Bischöfe. Wir treffen das Kreuz auch an als Schmuckstück zur Verschönerung von Hals und Wand, ein Objekt für Maler und Musiker, für Designer und Architekten.

Ist es das wirklich – das Kreuz? Wenn man in einem Lexikon nachschlägt, werden dort ganz andere Töne angeschlagen. Die Kreuzigung war eine Hinrichtungsart. Sie wurde von den Persern erfunden und von den Römern übernommen. Nur Schwerstverbrecher wie Mörder, vor allem aber Sklaven und Terroristen, wurden mit dem Tod am Kreuz bestraft. Wie erniedrigend und brutal zugleich die Kreuzigung galt, zeigt sich daran, dass römische Bürger nicht gekreuzigt werden durften. Denken wir an den Völkerapostel Paulus, der als römischer Bürger deshalb nicht gekreuzigt, sondern enthauptet wurde. Die Gekreuzigten starben langsam und qualvoll. Ihr Todeskampf dauerte oft zwei Tage. Sie starben nicht durch Blutverlust, sondern durch Ersticken.

Stärker kann der Kontrast nicht ausgedrückt werden zwischen dem, was unser Alltagsverständnis vom Kreuz ausmacht und dem, was dieses Zeichen eigentlich ist: Brutales Hinrichtungsgerät statt harmlos schönes Schmuckstück, Schandpranger statt Heilszeichen. Deshalb ist es ein Kreuz mit dem Kreuz. Denn des Menschen Versuchung liegt darin, die spröden Kreuzesbalken in ein wertvolles, rundes Schmuckstück umzugießen, das von vielen bewundert, aber nur von wenigen in seiner letzten und ernsten Bedeutung erkannt wird. Das Kreuz ist kein Accessoire des Christentums, das Kreuz ist seine Mitte und sein Kern. Das wollen viele nicht mehr begreifen: Es besteht die Gefahr, dass „die Kreuzesreligion zur Wohlstandsreligion mutiert“, wie es die Würzburger Synode in ihrem Beschluss „Unsere Hoffnung“ treffend auf den Punkt bringt. Die Konsequenzen sind fatal: Ostern feiern ohne Karfreitag; zur Eucharistie treten ohne Beichte; die Sakramente empfangen ohne Vorbereitung; zur Erstkommunion gehen, ohne die Sonntagspflicht einzuüben; von der Jerusalemer Urgemeinde träumen, ohne sich je alltäglich in der Kirche engagiert zu haben; ökumenisch gesinnt sein wollen, ohne sich ernsthaft über die Glaubensbrüder und -schwestern zu informieren.

Das Kreuz ist durch nichts zu ersetzen – weder durch Wissen noch durch Technik, weder durch Philosophie noch durch Revolution, weder durch Strategie noch durch neue Strukturen. Es ist der einzige Weg zu jener Wirklichkeit, die Reich Gottes heißt. Ohne den Mut zum Kreuz geht manches schief. Ich weiß, dass es gerade nicht schick ist, vom Opfer zu sprechen. Aber es besteht heute die Gefahr, Kreuz und Opfer an den entscheidenden Stellen des Lebens herauszubrechen: Wir wollen Freiheit ohne Verantwortung, Genuss ohne Maß, Fortschritt ohne Krisen, Liebe ohne Gebot. Man will die Einheit der Kirchen, der Nationen, der Kontinente ohne den mühsamen Weg der Bekehrung der Herzen. Verhandlungen an immer größeren Tischen enden im Kuhhandel fauler Kompromisse. Wer auf der Strecke bleibt: der Mensch. Spannungen zwischen Armen und Mächtigen wachsen, tödliche Waffen warten auf ihre Stunde und die Erde erstickt immer mehr im eigenen Müll, der aus den Seelen und Taten der Menschen abgeladen wird. Viele spüren: So kann es nicht weitergehen. Wir Christen haben keine Patentlösung, aber wir haben das Kreuz. Das Kreuz richtet unser Tun. Das Kreuz ist eine Lebensform - eine Perspektive, mit der ich die Kirche und auch die Welt anschaue. Vom Kreuz Jesu her erkennen wir, dass es viele Gekreuzigte gibt um uns herum, so viele Gekreuzigte auf dem Weg hin zu dem Einen. 

Papst Franziskus weist uns einen Weg, um das Wort vom Kreuz umzusetzen; erst gestern (14. 9. 2021) sagte er in Prešov (Slowakei): „Hier gibt es, Gott sei Dank, keine Christenverfolgung wie in allzu vielen anderen Teilen der Welt. Aber das Zeugnis kann durch Weltlichkeit und Mittelmäßigkeit getrübt werden. Das Kreuz hingegen verlangt ein klares Zeugnis. Denn das Kreuz ist nicht als Fahne gedacht, die es zu hissen gilt, sondern als reine Quelle für eine neue Lebensweise. (…) Der Zeuge, der das Kreuz im Herzen und nicht nur um den Hals trägt, sieht niemanden als Feind an, sondern alle als Brüder und Schwestern, für die Jesus sein Leben gegeben hat. (…) Der Zeuge des Kreuzes bedient sich nicht der Mittel der Täuschung und der weltlichen Macht: Er will nicht sich selbst und die Seinen durchsetzen, sondern sein Leben für andere hingeben. Er sucht nicht seinen eigenen Vorteil, um sich dann als fromm darzustellen: Das wäre eine Religion der Falschheit, nicht das Zeugnis des gekreuzigten Gottes. Der Zeuge des Kreuzes verfolgt nur eine Strategie, nämlich die des Meisters: die demütige Liebe.“

Liebe Familie Mariens, niemand hat das Buch des Kreuzes so offen gesehen und gelesen wie Maria. Mit Johannes stand sie unter dem Kreuz und spürte Jesu Herz, das bis heute schlägt. Dieses Stehen unter dem Kreuz ist der Grund, dass Maria nach ihrem Tod den Sieg davongetragen hat: aufgenommen in den Himmel wurde ihr die Krone des ewigen Lebens aufgesetzt. Diesen Hoffnungshorizont wünsche ich auch der Familie Mariens, am Anfang ihres Dienstes in unserem Bistum, an diesem Ort, zu dem viele Beter pilgern und Trost suchen:

Familie Mariens,

nimm Maß an der Gottesmutter, die für Dich Mitte und Lebensstil ist;

bleibe bescheiden und mühe Dich, den Menschen geistlich zu dienen;

breite Deine Arme weit aus; führe viele Suchende von fern zu Jesus;

pflege Deine musikalische Ader; lobe Gott mit Psalmen und Liedern; 

Familie Mariens,

schau hinüber zu den Petrusbrüdern, die gleich in der Nähe leben und nimm die Bruderschaft geschwisterlich an – und auch umgekehrt;

Familie Mariens,

ich vertraue Dir und baue auf Dich, 

dass Du diese Gebetsstätte beseelst 

als Gemeinschaft im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.  

17.09.2021 - Predigt