Predigt zu Weihnachten 2022 im Hohen Dom zu Augsburg von Bischof Dr. Bertram Meier

„Weihnachten macht sensibel für das Leben.“

Sie legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war (Lk 2,7).

Eine Ordensgemeinschaft, mit der ich schon als Baby durch das Augsburger Kinderkrankenhaus Josefinum verbunden bin, sind die Franziskanerinnen von Maria Stern. Seit bald 765 Jahren sind Frauen engagiert im Zeichen des Sterns unterwegs, davon 85 Jahre in Brasilien. Im Rahmen eines Jubiläums, an dem ich selbst in Brasilien teilnehmen konnte, zogen die Schwestern durch die Straßen der Stadt Timbaúba. Bei dieser Prozession, die eine Demonstration des Glaubens war, gab es verschiedene Stationen, bei denen das Evangelium in die Gegenwart versetzt wurde. Das Weihnachtsevangelium lautete so:

Es begab sich in jenen Tagen, dass auf dem Müllplatz Wächter waren, die das aussortierte Material bewachten. Inmitten der Nacht, im Dunkel der Verzweiflung, der Nacht der erfrorenen Liebe, erschien ihnen ein Engel des Herrn und sagte: „Fürchtet euch nicht! Ich verkünde euch eine gute Nachricht, eine große Freude für alle. Es ist euch ein Kind geboren in der ‚Strohhüttenstraße’ (einer berühmt-berüchtigten Favela in Timbaúba), ein Kind, das beim Abtreibungsversuch durchgekommen ist, das ohne ärztliche Assistenz das Licht der Welt erblickte, eine Hoffnung des Überlebens für euch alle, Zeichen des Heils für die fortgeschrittene Welt. Und das soll euch zum Zeichen sein: IAhr werdet ein Kind finden, in Windeln gewickelt und in einer Pappschachtel liegend.“ – Plötzlich war bei dem Engel eine Menge lichter Wesen, die sangen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen, die Er liebt.“ Die Müllarbeiter erhoben sich eilends und suchten das Gotteskind, den Jesus da Silva, und fanden Maria und José und das Kind, das in einer Pappschachtel lag. Und sie teilten mit ihm das wenige, das sie besaßen.

Eine fiktive Geschichte: die Geburt des Jesus da Silva, ein Kind in der Pappschachtel. Aber ist sie so weit von uns entfernt? Erst kürzlich war ich in Rom. Da konnte ich in den Kolonnaden des Petersdomes eine Ausstellung mit 100 Krippen bestaunen, und gleichzeitig am selben Ort schliefen Obdachlose und Bettler in Schachteln; wenn einer eine Decke hatte, war es Luxus. Und zu guter Letzt ein Blick in die Nähe: Haben wir nicht aufgehorcht, als 2008 das Findelkind von Pöttmes in aller Munde war: der kleine Christian, den die Mutter, eine rumänische Erntehelferin, in die leere Krippe der Pfarrkirche gelegt hatte? In ihrer Not trug die Mutter eine Ahnung und zugleich eine Sehnsucht in sich, wo ihr Sohn gut aufgehoben ist: nicht auf der Bank, wo es um Konten und Kredite geht, nicht in einer Klinik, sondern in der Kirche, wo Gott zu Hause ist, der auch dem kleinsten und schwächsten Menschen Lebensrecht gibt. Heute ist das einstige „Christkind von Pöttmes“ 14 Jahre alt, ein Jugendlicher, ein Mensch mit Behinderung. Weihnachten macht sensibel für das Leben – für die Würde eines jeden Menschen, wie immer er geschaffen ist. Die Krippe in der Kirche von Pöttmes diente als Babyklappe. Die Sensibilität für das Leben hat die Kirche schon im Mittelalter ausgezeichnet. Schon damals gab es Babyklappen: Ende des 12. Jahrhunderts verfügte Papst Innozenz III., sog. Drehläden an den Pforten der Findelhäuser anzubringen, was eine geheime Aussetzung und Rettung der Findelkinder ermöglichte. Die Verbreitung des Familiennamens Esposito (d.h. der Ausgesetzte) vor allem in Süditalien bezeugt noch heute den hohen Anteil solcher Kinder an der Bevölkerung.

Einst hatten Findelkinder keinerlei Rechte; sie wurden oft in die Sklaverei verkauft, als Knechte und Mägde auf Bauernhöfen gehalten oder auch in Klöster weggegeben. Erst in der frühen Neuzeit (im 17. Jh.) entstanden Armen- und Waisenhäuser, in denen Findelkinder Aufnahme und Hilfe fanden. Teilweise kümmerten sich auch reiche Kaufleute und Handelsherren um die Kinder, indem sie wohltätige Stiftungen unterhielten und Kinderheime gründeten.

Von Timbaúba nach Rom über Pöttmes zurück nach Bethlehem: Die viel besungene heilige Nacht war keine heile Welt, alles andere als gemütlich. Volkszählung war angesagt, eigentlich brutale Steuereintreibung. Der römische Geschichtsschreiber Laktanz berichtet: „Die Steuerbeamten erschienen allerorts und brachten alles in Aufruhr. Die Äcker wurden Scholle für Scholle vermessen. Jeder Weinstock und Obstbaum wurde gezählt. Jedes Vieh registriert, die Kopfzahl der Menschen notiert. In den Städten wurde die Bevölkerung zusammengetrieben. Alle Marktplätze waren verstopft von herdenweise aufmarschierenden Familien. Überall hörte man das Schreien derer, die mit Folter und Stockschlägen verhört wurden. Man folterte die Steuerpflichtigen, bis sie gegen sich selbst aussagten. Wenn der Schmerz gesiegt hatte, trieb man steuerpflichtigen Besitz auf. Rücksichtnahme auf Alter und Gesundheitszustand gab es nicht“ (De mortibus persecutorum 23,1ff.).

So ist es wohl auch in Bethlehem zugegangen, als Maria und Josef dort antreten mussten. Niemand nahm Rücksicht auf die schwangere Frau. Keiner kümmerte sich um die Zukunft des Kindes. Es gab weder Pappschachteln wie in Timbaúba noch Babyklappen wie bei der Caritas. Die „stille Nacht“ schrie zum Himmel. Nichts Verklärtes, kein klarer Sternenhimmel, sondern raue harte Wirklichkeit: Jesus kommt nicht in eine Welt von Glamour und Glanz, sondern geht ein in eine ungeschminkte Geschichte von Elend und Not, von Schuld und Tod. Wie gut, dass es Maria und Josef gab, die sich auf Herbergssuche machten, um das Leben der Welt zu entbinden!

Die Herbergssuche geht weiter. Und das Leben möchte auf die Welt kommen. Schwanger wie Maria sind auch wir unterwegs durch die Zeit. In uns strampelt das Leben, das ans Licht kommen will. Aber wie? Und vor allem wo? Wo ist der Ort, an dem mein Glück, meine Erfüllung zur Welt kommen kann? Wo wird das sein, dass ich endlich zufrieden bin, dass ich einstimme in das Lied vom Frieden, das die Engel intonierten – trotz allem?

Am Wegesrand lauern die Einflüsterer, damals in Bethlehem, heute bei uns: 

  • Warum willst du einen so beschwerlichen Weg auf dich nehmen? Es geht doch viel leichter! Sei doch nicht blöd! Kauf dir dein Glück! 
  • Wieso willst du es mit deinem Mann / deiner Frau weiter aushalten, es noch einmal versuchen? Such doch das neue Kribbeln! Spring rein ins neue Abenteuer! Pralle Lust – und du wirst glücklich sein!
  • Warum willst du überhaupt noch weitergehen? Alles hat seine Zeit. Du warst jetzt zehn Jahre treu oder zwanzig oder gar dreißig oder noch mehr, aber jetzt ist was anderes dran: ein neuer Kick!

Selig bist du, wenn du diesen Einflüsterern nicht auf den Leim gehst.

Selig bist du, wenn das göttliche Leben so in dir strampelt, dass du falsche Versprechungen durchschaust.

Selig bist du, wenn dein Wunsch aufzuleben dich nicht in die Arme der Einflüsterer treibt. Denn sie werden dich nicht satt machen, sondern süchtig.

Schwanger wie Maria sind wir unterwegs durch die Zeit. In uns strampelt die Sehnsucht nach Leben, das zur Welt kommen will. Aber wie, und vor allem wo?

In diesem Advent ist mir eines besonders bewusstgeworden: Gott ist nicht aus der Welt geflohen. Er hat sich nicht aus dem Staub gemacht, er hat sich dem Staub der Welt ausgesetzt und sich nicht nur die Hände dreckig gemacht. Er hat sein Herz drangegeben und ist schließlich verblutet am Kreuz. Liebe, nichts als Liebe: Wer Krippe und Kreuz ausblendet, flieht vor der Liebe.  Obwohl er allen Grund gehabt hätte, hat Jesus nicht Reißaus genommen vor dem Leben, sondern ist hineingegangen mitten ins Leben.

Er, das Leben selbst, die Fülle aller Möglichkeiten, wird Mensch mit allem, was dazugehört. Er kommt in die Welt, aus der wir manchmal weglaufen wollen. Er bleibt in der Welt. Er bleibt und bindet sich an ein menschliches Leben mit all seinen Grenzen, seiner Armut und Not. Er bleibt, auch wenn alles zum Davonlaufen ist. Er lässt von Bethlehem nicht, obwohl es nur ein Stall ist, der Obdach bietet. Die Schwangerschaft wird nicht abgebrochen, das Leben kommt zur Welt: Jesus von Nazareth, Findelkind in der Krippe und Heiland der Welt. 

Weihnachten geht weiter: Mit Paulus wissen wir, „dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt“ (Röm 8,22), bis unsere Hoffnung auf Leben erfüllt ist.

Schwanger wie Maria sind wir unterwegs durch die Zeit.

In uns strampelt die Sehnsucht nach Leben, das zur Welt kommen will.

Wir wollen nicht weglaufen. Wir wollen bleiben und helfen,

dass Liebe und Leben zur Welt kommen können. 

„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt,

und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, 

die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, 

voll Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14)

Wenn dem so ist, dann bleibt Weihnachten über Weihnachten hinaus.

     

27.12.2022 - Bischöfe , Predigt , Weihnachten