Schweizer Stararchitekt

Allein mit der Unendlichkeit

Mario Botta, der 76-jährige Schweizer Stararchitekt, hat in seinen 51 Berufsjahren mehr als 100 Gebäude entworfen – und das nicht nur im heimischen Tessin, sondern auch in den USA, Japan und China. Unter seinen Werken sind Einfamilienhäuser, Banken, Sportstätten und Museen. Am liebsten aber, sagt Botta, plane er „sakrale Räume“.

Dass er darunter nicht nur Kirchen oder Kapellen versteht, sondern auch Gotteshäuser anderer Religionen, hat er mehrfach gezeigt. So zählen die Cymbalista-Synagoge in Tel Aviv und eine Moschee im chinesischen Yinchuan zu seinen Werken. Gerade entsteht nach seinen Plänen in Südkoreas Hauptstadt Seoul eine riesige Kirche. 

Botta spürt offenbar, in welchem architektonischen Umfeld sich die Seelen der Gläubigen wohlfühlen, ganz gleich, in welcher Kultur und in welchem Land. Nicht nur seine Auftraggeber wissen ihn dafür zu schätzen. Anfang 2013 berief Papst Benedikt XVI. Botta in die Päpstliche Akademie der schönen Künste. 2018 erhielt er den Joseph-Ratzinger-Preis der vatikanischen Stiftung „Fondazione Vaticana Joseph Ratzinger – Benedetto XVI“.

„In sakrale Räume kommen die Menschen zum Beten und Singen“, betont Botta in seinem Büro in Mendrisio beim Gespräch mit unserer Zeitung. Sie wollten in ihnen aber auch „Ruhe und Zuflucht“ finden. „Stille, Meditation und Gebet“ seien die Themen des „Sacralen“, hat er im Begleitkatalog zur Wiener Ausstellung „Mario Botta – Sakrale Räume“ geschrieben. Die architektonische Arbeit verbinde das Endliche mit dem Unendlichen.  

Wie entwickelt der Starachitekt seine Ideen? „Der Anfang ist stets ein Abenteuer, denn er enthält potenziell schon alles“, formuliert Botta. Beim Blick auf den Standort und sein Umfeld wisse er sofort, welcher Bau passt. 23 Mitarbeiter – darunter seine drei Kinder, die ebenfalls Architekten sind – beteiligen sich an der Realisierung. 

Sein Lieblingsbau, sagt Botta schmunzelnd, sei immer der nächste. Daher verfolgt er die Bauarbeiten genau. „Es ist schön, einen Bau wachsen zu sehen“, bekennt er. Kürzlich sagte er, er habe stets wie ein Besessener gearbeitet. Und so bringt er während des Gesprächs mit rotem Bleistift einen neuen Entwurf zu Papier. Er zeichne einen Vorgarten für das Büro, erklärt er und fügt hinzu:  „Mein Bleistift ist auch bereit für ein Projekt in Deutschland.“

Meist streng geometrisch

An der Wand hinter dem Meister hängen Entwürfe für ein Stadion, das sich der Schweizer Eishockey-Club Ambrì-Piotta nach seinen Plänen errichten lässt. Das Endliche vernachlässigt Botta also keineswegs. Schon seit 1998 freuen sich Mendrisios Einwohner über sein „Piazzale alla Valle“, ihr Einkaufszentrum, erbaut aus rotem Backstein. Botta, der meist streng geometrisch arbeitet, hat diesen Publikumsplatz durch eine schwungvolle Treppe und runde Säulen aufgelockert.

Zu seinen neuesten Kreationen gehört die „Fiore di pietra“ (Steinblume), ein 2017 eröffnetes Berg­restaurant auf dem 1700 Meter hohen Monte Generoso, dem Lieblingsberg der Tessiner an der Grenze zu Italien. Als Junge ist Botta in Sommernächten oft mit Freunden hinaufgestiegen. Touristen nutzen heute meist die Zahnradbahn. 40 Minuten braucht sie nach oben. Bei klarem Wetter sieht man vom Gipfel bis zum Matterhorn. 

Botta betont, er nehme sich nicht die Natur zum Vorbild. „Natur ist organisch, Architektur ist rational“, sagt er. Seine Entwürfe seien eher vom Licht und der Geschichte des Ortes geprägt. Sie stünden für Dialog und Konfrontation mit der Natur. Seine „Steinblume“ scheint jedoch eher den Dialog mit der Natur zu pflegen. Die kantigen konkaven Türme lassen den Bau wie eine sich öffnende Blüte wirken. Die Fenster nehmen das Blau des Himmels auf. Nur der Luganer See weit unten strahlt noch blauer. 

Den Weg vom Endlichen ins Unendliche zeigen dagegen die von Botta geplanten, in den 1990er Jahren errichteten Gotteshäuser. Durch ihre außergewöhnliche Architektur gehören sie zu den prägenden Kirch- und Kulturbauten im Tessin. Exemplarisch für Bottas Gotteshäuser steht die Kapelle „Santa Maria degli Angeli“ auf dem Berg Tamaro.

Das Leben ist ein Risiko, vermittelt diese besondere Kirche, die fast wie eine Bergfestung wirkt. Deutlich neigt sich der Grashang, auf dem der rotbraune Porphyrbau steht. Wer oben auf der Rampe zum Kreuz läuft, geht, so scheint es, Richtung Ewigkeit und könnte fast die Berge gegenüber berühren. Doch zwischen der Kapelle und den Gipfeln lauert der Abgrund, der Tod.  

In die Glocke sind drei Namen eingraviert: Egidio Cattaneo, Mario Botta und Enzo Cucchi. Unternehmer Cattaneo ließ die Kapelle zur Erinnerung an seine verstorbene Frau Mariangela errichten. Künstler Cucchi gestaltete sie. Treppen führen hinunter in den durch seitliche Fenster erhellten Kirchenraum. Das blaugrundige Fresko in der Apsis zeigt zwei geöffnete Hände. Vielleicht sollen sie die Seelen der Verstorbenen auffangen. 

Eine weitere, aber völlig andere von Botta entworfene Kirche entstand fast zur gleichen Zeit: San Gio­vanni Battista im Bergdorf Mogno. Nach einer Fahrt durchs Maggiatal und in Serpentinen bergauf leuchtet der grau-weiß gestreifte Bau mit dem nach vorn geneigten kreisrunden Glasdach den Ankommenden entgegen. 

Ersatz für zerstörte Kirche

Das spektakuläre Gotteshaus war der Ersatz für die 1986 von einer Lawine zerstörte Vorgängerkirche aus dem Jahr 1636. Die Bewohner wünschten eigentlich einen originalgetreuen Wiederaufbau. Das aber lehnte Botta ab. „Erst 1992 konnte er seinen Entwurf verwirklichen. 1996 war die Tat vollbracht“, erzählt Experte Urs von der Crone. „Ein mit Gras bedeckter Wall schützt nun die Kirche vor weiteren Lawinen.“

Wer näherkommt, dem offenbart sich Bottas Meisterschaft. „Der Grundriss ist eine Ellipse, etwas Unvollkommenes“, sagt von der Crone. „Bis zum Dach verwandelt sie sich in einen Kreis, ins Vollkommene.“ Drinnen faszinieren kühne Verstrebungen und die Übergänge von Rechtecken zu Rundungen. 

Die verwitterten Häuser rund  um die moderne Gebetsstätte stehen leer. Die Bewohner haben das Dorf verlassen. Umso eindringlicher wirkt dort Bottas helles Gotteshaus. Paare kommen nach Mogno oder auf den Berg Tamaro, um in Mario Bottas Kirchen zu heiraten. Andachten oder Konzerte sind selten. Und so können Besucher diese wunderbaren „sakralen Räume“ oft ganz für sich allein genießen. Dann ist es fast so, als wären sie allein mit der Unendlichkeit.

Ursula Wiegand

13.06.2019 - Ausland , Kirchenbauten , Kultur