Welt-Drogen-Tag am 26. Juni

Wenn die Sucht das Ich verschluckt

Über die krankhafte Abhängigkeit von Stoffen

Am 26. Juni findet jährlich der Internationale Tag gegen Drogenmissbrauch und erlaubten Suchtstoffverkehr statt. Dieser wurde Ende 1987 durch eine Resolution der Vereinten Nationen festgelegt. Doch was bedeutet „Sucht“? Wenn man eine Definition sucht, erkennt man relativ schnell, dass es sich dabei um eine krank- und zwanghafte Abhängigkeit von Stoffen handelt. Daneben gibt es Störungen mit abhängigen Verhaltensweisen, wie zum Beispiel die Glücksspiel-, Internet- oder Kaufsucht, bei denen nicht der Konsum einer Substanz, sondern eine schädliche Verhaltensweise das Leben einer Person bestimmt. 

Psychische und physische Abhängigkeit

Zudem unterscheidet man zwischen psychischer und physischer Abhängigkeit. Bei den Süchtigen besteht oftmals der Wunsch oder gar ein Zwang, das entsprechende Verhalten auszuüben oder die Substanz zu konsumieren. Ferner will man die Dosis erhöhen, um eine gleiche Wirkung zu erzielen. Der zeitnah einsetzende Kontrollverlust wird sichtbar, wenn es darum geht, den Anfang und das Ende des eigentlichen Konsumverhaltens zu markieren.

Beim Absetzen bzw. der Reduktion der Substanz kann es zu unterschiedlichen Entzugserscheinungen kommen. Überdies ist es möglich, dass die Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des konsumierten Suchtmittels die Betroffenen schädigt und der Konsum trotz negativer psychischer und körperlicher Folgen weiterhin aufrecht erhalten wird.

Gibt es eine Co-Abhängigkeit?

Wenn Menschen einer Sucht „zum Opfer fallen“, sind sie beileibe nicht die einzigen Betroffenen. Auch Familienangehörige oder enge Freunde geraten in eine Negativspirale. Sie leiden mit, wenn die Süchtigen ihre Gesundheit kaputt machen oder – salopp formuliert – aufs Spiel setzen. Besonders schlimm wird es, wenn sich die Abhängigen in ihrer Persönlichkeit verändern, unzuverlässig werden und die Angehörigen mit ihren Launen drangsalieren. 

Wutanfälle und Gewaltausbrüche stehen oft in Verbindung mit Suchtmittelkonsum, nicht selten kommen soziale Probleme in Form von Arbeitslosigkeit und finanziellen Schwierigkeiten hinzu. Die nahestehenden Menschen erleben sich dabei als machtlos. Mehr noch: Sie fühlen sich teilweise mitschuldig, werden ferner zu Mitgefangenen oder auch zu Co-Abhängigen der Sucht.

Niemand ist davor gefeit, eine Sucht zu entwickeln

Jeder von uns kann sich eines Tages in einer Lebenslage wiederfinden, in der das Risiko besteht in eine Sucht zu schlittern. Ob sich dann tatsächlich eine Abhängigkeitserkrankung entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab. Die Wirkung von Alkohol zum Beispiel wird von verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich empfunden: Bei dem einen wird die Stimmung verbessert, während ein anderer eher melancholisch wird. Manchmal stellt sich Müdigkeit ein, andere fühlen sich frischer. Wieder andere wollen einfach lustig sein. 

Je mehr die Wirkung zu dem Zustand passt, den der Betroffene bei sich erreichen möchte, desto größer ist die Gefahr, dass sich mit der Zeit Gewohnheit und Sucht einstellen. Ebenfalls ein Risikofaktor eine Sucht zu entwickeln ist, wenn man einen Rausch ohne Kater wegstecken kann. Und auch unverarbeitete, traumatische Erlebnisse können bewirken, dass Menschen in eine Sucht rutschen.

Andreas Raffeiner

Als Angehöriger sollte man Anteilnahme zeigen

Wie reagiert man als Angehöriger, wenn man merkt, dass ein Bekannter immer öfter zur Flasche greift, fast nur noch Zeit vor dem Computer verbringt oder ständig mit Einkäufen nach Hause kommt, die er überhaupt nicht braucht? Wie können Süchte bewältigt werden? Unser Korrespondent Andreas Raffeiner hat mit Ärztin und Psychiaterin Dr. Monika Vogelgesang gesprochen.

Frau Dr. Vogelgesang, Sie stehen als Vorsitzende des Vorstandes des Fachverbandes Sucht e. V. vor. Können Sie sich kurz beschreiben?

Ich bin Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Seit 2001 bin ich Chefärztin der Median Klinik Münchwies, einem Zentrum für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Suchtmedizin. Im Vorstand des Fachverbandes Sucht bin ich seit mehr als zehn Jahren tätig. Ich habe zahlreiche Fachveröffentlichungen geschrieben und verschiedene Bücher geschrieben beziehungsweise herausgegeben. In diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert ist das Lehrbuch „Psychotherapie der Sucht“, das im Pabst-Verlag erschienen ist.

Was können wir genau über Ihre facettenreichen Arbeitsfelder in Erfahrung bringen?

Ich leite die Klinik. Der Kontakt mit Zuweisern und Nachbehandlern gehört ebenso zu meiner Tätigkeit wie Vorträge, Lehraufträge, die Mitarbeit in Expertengremien und in Prüfungskommissionen. Wir behandeln in Münchwies alle Arten psychischer Störungen, Süchte, Essstörungen, Pathologisches Glücksspielen, krankhafter PC-/Internetgebrauch, Kaufsucht usw. 

Wie viele Menschen sind in Deutschland einer Sucht verfallen, oder ist es schwer, aufgrund einer möglichen Dunkelziffer nur jene zu erfassen, die sich „offiziell“ helfen lassen? 

Die aktuell exakten Zahlen kann man von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen erfahren. Über den Daumen gepeilt gehen wir in Deutschland von etwa 1,3 Millionen Alkoholabhängigen aus. Hinzu kommt eine deutlich niedrigere Zahl von Medikamenten- und Drogenabhängigen. Leider schafft nur ein kleiner Prozentsatz der Süchtigen den Weg in die Entwöhnungstherapie. Hier ist die Chance allerdings gut, dass die Betroffenen es dadurch schaffen dauerhaft abstinent von der Substanz zu leben. Wir haben in Deutschland eines der besten, vielleicht sogar das beste Suchthilfesystem der Welt. Das Problem besteht darin, dass es zu wenig in Anspruch genommen wird. 

Wie definieren Sie persönlich das Wort „Sucht“?

Ich halte mich an die international gültige Definition der Sucht, die ich sehr plausibel finde: Sucht ist gleichbedeutend mit dem Abhängigkeitssyndrom, das nach der Internationalen Diagnoseklassifikation (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation wie folgt definiert ist: „Wenn ein Mensch ein übermäßiges Verlangen nach einer Substanz verspürt, er seine Dosis steigern muss, um die ursprüngliche Wirkung zu erzielen, er Entzugssymptome, etwa Schwitzen oder Zittern, entwickelt, wenn er die Substanz deutlich reduziert oder weglässt, er die Kontrolle über den Konsum verloren hat, er wegen des Substanzkonsums Verpflichtungen oder Interessen vernachlässigt, er in Kauf nimmt, dass er sich durch den Konsum selbst schädigt, dann ist er süchtig nach der Substanz.“ Letztendlich genügen bereits drei der sechs aufgeführten Kriterien um die Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms zu stellen.

Computer- und Internetsucht nehmen zu. Wie nehmen Betroffene ihre „Offlinewelt“ wahr?

Die Offlinewelt wird nicht selten als weniger attraktiv, weniger bunt, langweilig, öde und aversiv wahrgenommen. Je weiter die reale und die virtuelle Welt im Erleben der Betroffenen auseinanderklaffen, desto stärker ist die Sucht.

Wie kann man als Familienangehöriger Menschen helfen, die gerne zu tief ins Glas schauen?

Man sollte in einer ruhigen Minute, freundlich und Anteil nehmend seiner Besorgnis Ausdruck geben. Vorwürfe und Streitereien nutzen hier nichts. Man sollte dem Betroffenen empfehlen, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen und einen Termin in einer Suchtberatungsstelle zu vereinbaren. Man kann ihnen auch ein Buch kaufen, in dem über Sucht informiert wird, zum Beispiel „Die Suchtfibel“ von Ralph Schneider, oder „Lieber schlau als blau“ von Johannes Lindenmeyer.

Ab wann ist man „süchtig“? Und wann müssten bei jedem die Alarmglocken schrillen?

Wenn drei der oben aufgeführten Symptomkomplexe des Anhängigkeitssyndroms vorliegen, ist man süchtig. Die Alarmglocken sollten schrillen, wenn man eines der obigen Merkmale bei sich erkennt. Wenn man morgens bereits den Impuls hat, Alkohol zu trinken oder wenn man alleine und aus Kummer trinkt, sind das ebenfalls Alarmsignale.

Gibt es auch so etwas wie eine Risikogruppe?

Ein besonders hohes Risiko haben Menschen, in deren Familie Suchterkrankungen vorkommen. Menschen, die eine Neigung haben, Ihren Impulsen schnell und spontan nachzugeben, Menschen mit sonstigen psychischen Störungen, wie zum Beispiel Depressionen oder Angststörungen, Menschen mit besonderen psychischen Problemen und einsame Menschen sind ebenso gefährdet.

Wie und wo kann man Hilfe finden?

Niedrigschwellige Anlaufstellen sind die Selbsthilfegruppen, etwa die Anonymen Alkoholiker, der Kreuzbund, das blaue Kreuz, die Guttempler, sowie die verschiedenen Freundeskreise. Weiterhin sind die psychosozialen Beratungsstellen dazu geeignet, kurzfristig für Gesprächsangebote zur Verfügung zu stehen. Hilfe kann man auch finden bei niedergelassenen Psychiatern, sowie in Psychiatrien, wo die notwendigen Entgiftungen durchgeführt werden. 

Wie sieht Ihre Hilfestellung aus?

Wir gehen telefonisch auf Fragen von Betroffenen ein, führen stationäre sowie ganztägig ambulante Entwöhnungsbehandlungen durch und betreuen sie in Nachsorgegruppen. Nach der ersten Beratung sollte eine stationäre Entgiftung durchgeführt werden, danach die Entwöhnung und schließlich die Nachsorge. Inhaltlich besonders bewährt hat sich die kognitive Verhaltenstherapie.

Ist eine Entwöhnung Kopfsache – zumal unser Gehirn unsere Schaltzentrale ist?

Vollkommen richtig. Ohne den Einsatz des Gehirns kann man keine sinnvolle Entwöhnung durchführen. In der Entwöhnung lernen die Betroffenen zu erkennen welche Auslöser ihr Suchtverhalten hat und wie man anders als durch den Suchtmittelkonsum damit umgehen kann. Sie erfahren, welche Strategien Sie einsetzen können, wenn der Impuls erneut zu konsumieren, sie wieder überfällt. Sie lernen auch mit ihren anderen Problemen lösungsorientiert umzugehen.

Bleibt Ihr Fazit…

Man kann ein glückliches Leben ohne Suchtmittel führen. Erfolgreiche Patienten und Patientinnen empfinden ihre Abstinenz viel mehr als eine Befreiung als einen Verzicht.

Interview: Andreas Raffeiner

25.06.2020 - Gesundheit , Medizin