Die deutsch-tschechische Grenze und Corona

Alte Ängste, neue Ängste

Sie heiße Natalia, sagt die tschechische Grenzbeamtin hinter ihrer Atemschutzmaske. So dürfe man sie auch in der Zeitung nennen, fügt sie lächelnd hinzu. Zusammen mit einem Kollegen steht die 24-Jährige seit sieben Uhr früh am deutsch-tschechischen Grenz-übergang Sebnitz in der sächsischen Oberlausitz und passt auf, dass niemand die Absperrung passiert. 

„Ein langweiliger Job“, sagt Natalia – und wegen der Atemschutzmaske auch ein lästiger. Ein Job, der mit umgerechnet 1300 Euro brutto im Monat für tschechische Verhältnisse zwar gut, aber nicht üppig entlohnt wird. Natalia spricht Englisch, ihr Kollege weder das noch Deutsch. So beschränken sich ihre Kontakte mit den deutschen Bewohnern des Grenzortes auf das Notwendigste. 

In der Regel bis 17 Uhr sitzen die Grenzer in einem Zelt, bis sie abgelöst werden. Auf Bildschirmen überwachen sie ihren Abschnitt, gehen hin und wieder auf Streife. „Die Computer sind mit Drohnen verbunden, die uns Luftaufnahmen liefern“, erklärt Natalia. Bei Grenzdurchbrüchen eilen Kollegen per Streife oder Helikopter zur fraglichen Stelle.

Grenzregime von damals

Wer solche Worte hört und in oder vor den 1960er und 70er Jahren geboren wurde, dem kommen sogleich die Bilder vom unbarmherzigen Grenzregime in den Sinn, das bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 herrschte. Die Bilder von damals sind heute wieder bittere Wirklichkeit. Seit Ende März ist die Grenze zwischen Tschechien und Deutschland komplett dicht. 

Wo sonst buntes Treiben herrscht, sind längs der Grenze Geisterstädte entstanden, in denen das Frühlingsgezwitscher den Motorenlärm der wenigen Autos übertönt, die in Ausnahmefällen herüberfahren dürfen. Die vielen Asia-Imbisse und Dönerbuden rund um den Marktplatz sind geschlossen. Einmal täglich kriegen Grenzbeamtin Natalia und ihr Kollege eine warme Mahlzeit gebracht, erzählen sie: Eintopf mit Dosengemüse, Reis und gesüßtem Tee.

Die Atmosphäre im Grenzgebiet wirkt gespenstisch. Sie erinnert an Zeiten, als auch das Verhältnis zwischen der DDR und ihren sozialistischen „Bruderstaaten“ alles andere als offen war. „Besonders nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 beäugte die SED-Führung misstrauisch den Grenzverkehr in die damalige Tschechoslowakei“, sagt der Historiker und Publizist Hans-Michael Schulze, der als wissenschaftlicher Berater am DDR-Museum im Berlin arbeitet. 

Auch wenn es befremdlich klingt: Noch immer gibt es in Sebnitz Menschen, die sich wehmütig an diese Zeiten zurückerinnern. Nur wenige Meter vom Grenzübergang entfernt leben Familien, die sich neuerdings über die „himmlische Ruhe“ auf ihrer Straße freuen. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das hier sonst ist“, sagt eine Mittfünfzigerin erregt, die auf dem Treppenabsatz steht und ihrem Mann beim Autowaschen zuschaut. 

Ohne Corona, erzählt sie, führen durch Sebnitz täglich Hunderte, wenn nicht gar Tausende Pendler aus Tschechien zu ihren Arbeitsplätzen nach Deutschland – vor allem in der Gastronomie, der Pflege und im Reinigungsgewerbe. Das sei kaum zu ertragen und habe zu viel Unmut in der Bevölkerung geführt.

Wurstwaren im Internet

Doch es gibt auch andere Stimmen. Dass die Pendler verschwunden sind, stört in Sebnitz vor allem den Einzelhandel, darunter die örtliche Fleischerei Rietschel, wo es neben Wurst- und Fleischwaren auch Gulaschsuppe, belegte Brötchen und kalte Getränke gibt. „Uns fehlt der Durchgangsverkehr, die vielen Snacks und Suppen, die sonst über den Tresen gehen“, sagt Inhaber Harald Rietschel. Seine Waren kann man auch übers Internet bestellen.

Eine fast schon besinnliche Ruhe herrscht in der katholischen Pfarrkirche Kreuzerhöhung, gegenüber der örtlichen Polizeiwache. Organistin Valentine Gebauer erzählt, sie nutze die Zeit zum Üben – auch, weil ihre fast erwachsenen Kinder daheim mal ohne die Eltern sein wollen. „Ich habe den Eindruck, dass sich Lehrer und Schüler um Unterricht und Lernen bemühen, gleichwohl das alles auch irgendwann ein Ende haben muss“, sagt Gebauer, deren Töchter das Gymnasium und eine Berufsschule besuchen. 

Auch schon vor Corona habe ihre Pfarrei unter Mitgliederschwund gelitten, erklärt sie. Die Bistumsleitung habe wohl nur noch die sächsischen Metropolen Leipzig, Dresden und Chemnitz im Blick. Derweil werde das religiöse Leben auf dem Land seinem Schicksal überlassen.

Ortswechsel. Auch im kleinen Grenzort Bärenstein, unweit des Fichtelbergs, des höchsten Bergs Ostdeutschlands, wurde die Grenze komplett abgeriegelt. Wer sie einmal aus beruflichen Gründen passiert, muss sich zwangsweise in Quarantäne begeben. Zwei junge Tschechinnen bringen ihren Ehemännern, die auf deutschen Baustellen arbeiten, eine Frischhaltebox mit eingekochtem Essen. Sie tragen Mundschutz, so dass auch das Begrüßungsküsschen über die Absperrung hinweg ein wenig deplatziert wirkt. 

Vermummte Hausbesitzer

Der nett gestaltete Vorplatz im Zentrum Bärensteins, wo man unter normalen Bedingungen gemütlich spazierengehen kann, ist mit einer rotweißen Polizeibanderole abgesperrt. Tschechische und deutsche Kinder, die hier sonst zusammen spielen, radfahren und sich streiten, sind aus der Öffentlichkeit verschwunden. Hin und wieder huschen vermummte Hausbesitzer über den Bürgersteig, stets die missbilligenden Blicke der Ordnungskräfte im Nacken, die neuerdings Strafen bis 5000 Euro verhängen dürfen. 

Der Kalte Krieg hat auch in Bärenstein tiefe Spuren hinterlassen. Bei Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 warteten rings um den Ort sowjetische Panzereinheiten auf ihren Befehl zum Einmarsch im Nachbarland. Viele Grenzbewohner haben das bis heute nicht vergessen, sagt Historiker Schulze, dessen Familie aus Ostdeutschland stammt und der die „DDR-sozialisierten Befindlichkeiten seiner Landsleute“, sehr gut kennt. 

In Sebnitz beweist unterdessen Harald Rietschel, dass auch er die Befindlichkeiten seiner Mitmenschen versteht – und dass er Geschäftssinn hat. Neben Lebensmitteln bietet der Fleischermeister im Ladenlokal neuerdings auch Toilettenpapier an: die Großpackung für 2,95 Euro.

Benedikt Vallendar

23.04.2020 - Ausland , Corona , Gesellschaft