20 Jahre nach der Bluttat

Offene Wunden und viele Fragen

17 Menschen starben vor 20 Jahren bei einem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt. Zwei Jahrzehnte danach sind die seelischen Wunden bei vielen Betroffenen, die das Blutbad er- und überlebt haben, noch nicht verheilt. Auch Katholiken waren und sind in die Aufarbeitung eingebunden. Ein Besuch vor Ort.

„Andere waren im Krieg und haben ihn überlebt. Bei mir kam er an die Bürotür, und ich habe ihn auch überlebt.“ Nüchtern fasst Schulleiterin Christiane Alt zusammen, was sich am Vormittag des 26. April 2002 im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt binnen weniger Minuten abspielte. Als der kurz zuvor von der Schule verwiesene Elftklässler Robert Steinhäuser im Gebäude und auf dem Gelände 16 Menschen erschoss und sich anschließend selbst eine Kugel in den Kopf jagte. 

Nach dem Massaker glich die altehrwürdige Lehranstalt im Westen der thüringischen Landeshauptstadt einem Schlachthaus. Ein Lehrer erlag im Treppenhaus erst nach längerem Todeskampf seinen Verletzungen – weil sich die Polizei nicht hatte durchringen können, das Gebäude zu stürmen. Schulleiterin Alt entkam nur durch Zufall ihrer eigenen Hinrichtung. 

Durch Türen geschossen

Zwei ihrer Kolleginnen ließen von jetzt auf gleich ihr Leben, bevor der Mörder durch das Gebäude schlich und seinen blutigen Rachefeldzug vorantrieb. Durch Türen und Seitenfenster schoss er, streckte zwei Achtklässler nieder und tötete einen Polizeibeamten mit gezieltem Kopfschuss aus der dritten Etage des Schulgebäudes.

Zu harschen Diskussionen kam es, als die Schriftstellerin Ines Geipel, einst DDR-Leistungssportlerin und heute Germanistikprofessorin in Berlin, zwei Jahre nach der Tat aus Ermittlungsakten für eine „literarische Fiktion“ zitierte und bei einer Lesung in der Erfurter Kaufmannskirche auf deutliche Kritik stieß. Es sei ein „unnötiges Buch“ gewesen, kommentierte Schulleiterin Alt, die von Haus aus selbst Germanistin ist.

In Erfurt, wo Christen schon zu DDR-Zeiten in der Minderheit waren, sind heute die Kirchen wichtiger Anlaufpunkt bei der Aufarbeitung. Warum tötete ein leistungsschwacher Pennäler, Mitglied im örtlichen Schützenverein, Menschen, als wären sie Figuren aus dem Videospiel „Counterstrike“, das er angeblich so gern spielte? Und ­warum blieben Warnsignale im Vorfeld der Tat unerkannt, obgleich Steinhäuser als labil galt und Lehrkräfte für sein schulisches Versagen verantwortlich machte?

Ob katholisch oder evangelisch – selbst Geistliche fühlen sich bis heute mitunter überfordert, wenn sie mit dem durch Steinhäuser verursachten Leid konfrontiert werden. „Gotteshäuser sind offene Räume, in die sich Betroffene ohne Voranmeldung zurückziehen können, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen“, sagt der katholische Theologe Matthias Wanitschke. Bis heute ist der gebürtige Erfurter entsetzt über das Geschehen im April 2002. 

Im Hauptberuf kümmert sich Wanitschke um Opfer des SED-Regimes. Er weiß also, was es heißt, wenn Menschen anderen ausgeliefert sind und sich hilflos fühlen. „Steinhäusers Mutter war Krankenschwester, der Vater im Außendienst – eine ganz normale Familie also“, stellt der Familienvater und frühere Priesteramtsanwärter fest.

Eine Kerze für den Täter

Ebenso hilflos fühlte sich seinerzeit Ordinariatsrat Winfried Weinrich. Vor 20 Jahren war er als Leiter des katholischen Büros in Erfurt für die Kontakte zwischen Kirche und Landesregierung zuständig. Heute ist er bei den Maltesern tätig. Bei der Vorbereitung der Gedenkfeier für die Opfer des Amoklaufs drang Weinrich darauf, auch eine Kerze für den Täter aufzustellen. Vielerorts stieß er damit auf Unverständnis.

Ein gefälschtes Arztattest hatte die Schullaufbahn von Robert Stein­häuser beendet. Seinen Eltern gaukelte der zum Tatzeitpunkt 19-Jährige ein halbes Jahr lang vor, weiter Schüler des Gutenberg-Gymna­siums zu sein. Statt vormittags Mathematik, Biologie oder Geschichte zu pauken, trieb sich der Geschasste aber in Spielhallen herum, hing in der Innenstadt ab und übte das Schießen auf Tontauben und Pappkameraden. Ein „brillanter Schütze“ sei er gewesen, berichteten später Kollegen aus dem Schützenverein, die sich dem Vorwurf ausgesetzt sahen, ihm einen „Ort für sein mörderisches Tun gegeben“ zu haben.

Ohne Perspektive

Kurz nach seinem Schulrauswurf, wohl voller Wut und Hass auf die Welt und ohne Perspektive, entschloss sich Steinhäuser, an seinen ehemaligen Lehrern ein Exempel zu statuieren. Soll heißen: schwarz bekleidet und schwer bewaffnet auf ahnungslose Lehrkräfte und Schüler zu feuern, die gerade in ihren Abiturprüfungen saßen oder dort Aufsicht führten.

Der Tat lag womöglich ein schulrechtliches Problem zugrunde: Obwohl Steinhäuser die Schule in der elften Klasse verlassen hatte, verfügte er nach damaliger Gesetzeslage in Thüringen über keine Mittlere Reife, also keinen Schulabschluss. Er konnte daher auch keine Ausbildung beginnen oder etwa an ein berufliches Gymnasium wechseln. Heute ist das relativ unbürokratisch möglich. Erst später passte Thüringen die Gesetzeslage anderen Bundesländern an, wo Gymnasiasten mit bestandener zehnter Klasse automatisch einen Abschluss haben.

Einer, der damals vor Ort war und der bis heute als Seelsorger fungiert, ist der Erfurter Priester Wolfgang Schönefeld. Er wollte den Betroffenen zur Seite stehen, obwohl die Tat außerhalb seines Pfarrbezirks geschah, wie der promovierte Theologe betont. „Was aus den überlebenden Schülern geworden“ ist, kann er auf Nachfrage nicht sagen.

Angehörige seiner Gemeinde Sankt Josef im Erfurter Stadtzentrum berichten indes, dass immer wieder zum Jahrestag der Tat 16 Kerzen aufgestellt wurden, wohl im Gedenken an die Opfer, nicht aber an den Täter des Amoklaufs vom 26. April 2002, der sich auf Dauer in die Chronik der weit ins Mittelalter zurückreichenden Stadtgeschichte eingebrannt haben dürfte. Heute erinnert eine Gedenktafel am Schulportal an die Ereignisse. 

Pfarrer Schönefeld hat hautnah miterlebt, wie sehr das Massaker die Stadt in Atem hielt, wie sehr die Ereignisse am Gutenberg-Gymnasium im Unterbewusstsein präsent sind, auch wenn viele der damals involvierten Schüler nach bestandenem Abitur ihrer Wege gingen. Allein die Ehemaligenliste im Wikipedia-Eintrag des Gymnasiums belegt das.

„Sittliche Verwahrlosung“

Zum Zeitpunkt des Amoklaufs regierte in Thüringen mit Ministerpräsident Bernhard Vogel ein aus dem Westen stammender CDU-Politiker. Die von dort, aus den „alten Bundesländern“, kommenden Stimmen, Steinhäusers Tat sei auch eine Folge der „moralisch-sittlichen Verwahrlosung“ zu DDR-Zeiten, hat gleichfalls Wunden geschlagen. 

Viele Ost- und Mitteldeutsche haben die Anschuldigungen bis heute nicht vergessen. Sie fühlten sich durch die Geringschätzung ihrer Lebensleistung gedemütigt und missverstanden. „Zwar wurden Gesetze verschärft, doch haben sich die ehrverletzenden Medienstimmen bei vielen verfestigt“, ist der Berliner Historiker Uwe Puschner überzeugt. „Sie erklären in Teilen auch die jüngsten Wahlerfolge der AfD im Osten.“ 

Die Tat des Robert Steinhäuser – sie glich in ihrer Wucht einem Tsu­nami, der Schneisen schlug und weit über Erfurt und Thüringen hinaus für hitzige Debatten sorgte. Auch heute noch, 20 Jahre danach.

Benedikt Vallendar

22.04.2022 - Amok , Schule , Seelsorge