Das französische Bologna

Heimat der Jungfrau des Meeres

Einst lag in Boulogne-sur-Mer am Ärmelkanal die größte Provinzflotte des Römischen Reichs. Ab dem frühen Mittelalter zog ein Marienwunder viele Pilger an. Flandrische Grafen bauten eine wehrhafte Stadtanlage mit Schloss und Kathedrale. Im 19. Jahrhundert plante Napoleon von hier aus die Invasion Englands. Heute kommen Gläubige und Touristen wegen der Jungfrau von Boulogne, einer der größten Krypten unter der Basilika minor sowie Europas größtem Meeresaquarium in die „Hauptstadt der Côte d’Opale“. 

Gegründet wurde das französische Bologna von den Römern. Sie nannten die Hafenstadt – wie ihren Namensvetter in Italien – Bononia. Heute liegt hier der größte Fischereihafen Frankreichs. Julius Caesar und seine Nachfolger nutzten den strategisch gelegenen Ort, um mit ihrer Flotte Britannien zu erobern und die Seewege zu kontrollieren.

Das moderne Boulogne-sur-Mer hat sich den wohlklingenden Titel „Hauptstadt der Côte d’Opale“ zugelegt, Hauptstadt der Opalküste – wegen der blau-grünen Wasserfärbung der Küste in dieser Gegend im Norden Frankreichs. Touristen schätzen in Bou­logne-sur-Mer die Ober- und die Unterstadt, die beide einen sehr unterschiedlichen Charakter haben. In der Oberstadt lag einst ein Kastell. Heute ist sie von einer mittelalterlichen Stadtmauer mit imposanten Zugangstoren umringt.

Einst befand sich hier über vier Jahrhunderte lang das militärische Hauptquartier der größten Provinzflotte des römischen Imperiums. Als das weströmische Reich in der Spätantike im frühen fünften Jahrhundert zerfiel und sich die Römer von den britischen Inseln zurückzogen, behielt der Hafen seine Funktion bei: Bis ins hohe Mittelalter spielte er für den Schiffsverkehr in der Region eine wichtige Rolle.

Zentrum der Grafschaft

Lange nach den Römern bestimmten die Grafen von Flandern die Geschicke der Kommune. Boulogne wurde Zentrum der gleichnamigen Grafschaft. Die zweite Blüte der Stadt begann. Mit Balduin von Boulogne erlangte der Sohn eines ihrer Grafen zur Zeit der Kreuzzüge als erster König von Jerusalem historische Bedeutung. Sein Königreich bestand knapp 200 Jahre: von 1099 bis 1291.

In Boulogne wurde derweil von Balduins Verwandten das Château d’Aumont ausgebaut. Heute ist in dem Schloss ein kunst- und kulturgeschichtliches Museum untergebracht. Hier finden sich neben historischen Sälen mit Informationen zur Stadtgeschichte auch christliche Werke, impressionistische Malereien und Werke etwa von Auguste Rodin. Auch römische Schrifttafeln, altägyptische Kunst samt Mumien, griechische Vasen, afrikanische Masken, Kunstwerke der indigenen Völker Südamerikas, Alaskas und des pazifischen Raumes werden gezeigt.

Mantarochen im größten Aquarium Europas

Mit dem nationalen Meereszen­trum „Nausicaá – Centre National de la Mer“ in Hafennähe besitzt Boulogne auch das größte öffentlich zugängliche Aquarium Europas. Es ist ein Besuchermagnet für Groß und Klein. Rund 1600 verschiedene Tierarten und über 36 000 Tiere beherbergt der Bau am Rande der Stadt – darunter Mantarochen, die größten Rochen der Welt, Haie, Quallen, Seehunde und Seelöwen.

In der historischen Altstadt mit dem schicken Rathaus, seinen kleinen Geschäften sowie Cafés ist alles gut fußläufig erreichbar. Für Kinder gibt es auf den heute begrünten Wallanlagen Spielplätze. Wer mit dem Auto anreist, kann auf einem der Parkplätze jenseits der hohen, grauen Stadtmauern bequem und kostenfrei parken. 

Aus der Epoche des Schloss-Ausbaus stammt der historische Belfried im Zentrum der Oberstadt, ein trutziger Glockenturm aus dem zwölften Jahrhundert. Auch der Ursprungsbau der Basilika Notre-­Dame, die „Unserer Lieben Frau der Unbefleckten Empfängnis“ geweiht ist, reicht in jene Zeit zurück. Das Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria begeht die katholische Kirche am 8. Dezember.

Erinnert an Petersdom

Die Kirche mit ihrer 100 Meter hohen Kuppel, die an den Petersdom in Rom erinnert, ist weithin sichtbar. Ihre heutige Gestalt verdankt sie dem Priester und Architekten Benoît-Agathon Haffreingue, der sie auf den alten Fundamenten ab 1827 neu zu errichten begann. Das Besondere des unter Denkmalschutz stehenden Gotteshauses befindet sich unter der Erde: die Krypta aus dem 14. Jahrhundert, mit 1400 Quadratmetern Fläche eine der größten Frankreichs. 

Die Krypta wurde erst beim Umbau wiederentdeckt und besteht aus einem Labyrinth von Galerien und Räumen, die mit mittelalterlichen Wandmalereien ausgestattet sind. Darin befindet sich der Kirchenschatz mit seiner hochwertigen Sammlung sa­kraler Kunst. In Grisaille-Manier sind auf den Gängen zudem 160 Figuren zu sehen, welche die Geschichte des Christentums und die Legende der Notre-Dame de Boulogne aufgreifen.

Von 1567 bis 1801 war Boulogne Bischofssitz. Das kam nicht von ungefähr: Im siebten Jahrhundert soll eine von Engeln getragene wundersame Statue der Jungfrau Maria über das Meer die Stadt erreicht haben. Antichristliche französische Revolutionäre verbrannten das Original jener „Jungfrau des Meeres von Boulogne“ um 1800, heißt es. Die Verehrung der Muttergottes sei unter Strafe gestellt worden. Vor Nachbildungen finden sich bis heute viele Pilger ein. Zur Ehre der Gottesmutter findet jährlich eine kleine Straßenprozession in Boulogne statt. 

Kapelle für Revolutionär

Eine Besonderheit in der Krypta bildet die Kapelle für José Francisco de San Martín y Matorras. Der Südamerikaner gilt als „Vater Argentiniens“. Der General befreite Peru (1812), Argentinien (1816) und ein Jahr später Chile (1817) von der spanischen Herrschaft. Von 1848 bis zu seinem Tod in Boulogne im Jahr 1850 lebte der Volksheld in der Casa San Martin in der Grande Rue Nr. 113. Sein Leichnam wurde in der Krypta der Basilika beigesetzt. Später wurden seine sterblichen Überreste nach Argentinien überführt, wo sie in einem Mausoleum in Buenos Aires ruhen.

Eine weitere Sehenswürdigkeit der Stadt ist mit Napoleon Bonaparte verbunden. Im Vorort Wi­mille erinnert seit 1804 die „Colonne de la Grande Armée“, die Säule der großen Armee, an die vom Franzosen-Kaiser geplante Invasion Englands. Hier verlieh Napoleon mit viel Pomp seinen Orden der Ehrenlegion an Soldaten und Gefolgsleute. Bis heute ist der „Stern der Ehrenlegion“ die höchste Auszeichnung in Frankreich. 

Sofern es die coronabedingten Einschränkungen zulassen, ist ein Aufstieg auf die mehr als 50 Meter hohe Aussichtsplattform der Säule für Besucher sehr zu empfehlen. Oben auf dem Bauwerk, das an die Trajanssäule in Rom erinnert, schaut Kaiser Napoleon gen Paris. Sein Rücken ist England zugekehrt. Bei gutem Wetter hat man von hier einen grandiosen Blick bis zu den weißleuchtenden Kreidefelsen um Dover jenseits des Ärmelkanals.

Rocco Thiede