Das Münchner Abkommen von 1938

Die Niederlage vor dem Krieg

„Frieden für unsere Zeit!“, hatte der britische Premierminister Neville Chamberlain bei seiner Rückkehr aus München voller Stolz proklamiert: Nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens am 30. September 1938 waren die Menschen auf den Straßen von London und Paris euphorisch, dass der Krieg mit Hitler-Deutschland in letzter Sekunde hatte abgewendet werden können. „Wir haben eine totale und umfassende Niederlage erlitten“, urteilte dagegen Winston Churchill sechs Tage später im Unterhaus.

England und Frankreich hatten ihren tschechoslowakischen Bündnispartner im Stich gelassen, über dessen Kopf hinweg einen faulen Frieden zu seinen Lasten verhan­delt und Verrat an ihren politischen Idealen begangen. Adolf Hitlers Drohungen, Einschüchterungen und Erpressungsversuchen hatten sie nur Resignation und Schwäche entgegengesetzt – obwohl das militärische Kräfteverhältnis damals noch zu ihren Gunsten sprach. 

Nach dem „Anschluss“ Österreichs verlor Hitler keine Zeit. Sein nächstes Opfer sollte die 1918 entstandene Tschechoslowakei werden: Die in jenem Vielvölkerstaat lebenden drei Millionen Sudetendeutschen klagten über beständige Diskriminierungen und hohe Arbeitslosigkeit. Doch Hitler ging es nicht um diese Probleme. Vielmehr dienten ihm die Sudetendeutschen als Instrument, um eine weitere Stufe seiner Expansion nach Osten zur Eroberung von „Lebensraum“ einzuleiten. 

Am 28. März 1938 befahl er dem Chef der Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein, die Regierung in Prag mit für sie unannehmbaren Forderungen zu konfrontieren. Dementsprechend verlangte die Sudetendeutsche Partei weitgehende Autonomierechte für die deutsche Minderheit inklusive eigener Verwaltungsstrukturen. Die tschecho­slowakische Regierung war zwar zu mehr Minderheitenrechten bereit, aber eine umfassende Autonomie hätte faktisch das Ende des Gesamtstaats bedeutet. 

Die Tschechoslowakei glaubte sich abgesichert durch Allianzen mit Frankreich, hinter welchem England stand, und mit der Sowjet­union. Allerdings wollte Polen keinen Durchmarsch von Stalins Truppen über sein Territorium gestatten. Somit musste die Regierung in Prag darauf setzen, dass ihr Frankreich und England militärisch zur Seite standen. 

Deutscher Widerstand

Hitler ahnte nicht, dass es in Deutschland einen Kreis von Akteuren gab, welche die gleichen Hoffnungen hegten. „Bringen Sie mir den sicheren Beweis, dass England kämpfen wird, wenn die Tschechoslowakei angegriffen wird, und ich will diesem Regime ein Ende machen.“ So äußerte sich der Generalstabschef des Heeres, General Ludwig Beck, gegenüber dem konservativen Politiker Ewald von Kleist-Schmenzin. 

Als Mitglieder der Widerstandsgruppe um Oberstleutnant Hans Oster, Leiter der Zentralabteilung der Abwehr und rechte Hand von Geheimdienstchef Wilhelm Canaris, bereiteten sie für den Moment, in dem Hitler einen Krieg vom Zaun brach, einen Staatsstreich vor. Weil große Teile der Bevölkerung einen solchen Krieg gegen Frankreich und England, der für Deutschland abermals in einer Katastrophe enden würde, fürchteten, würden sie den Sturz Hitlers hinnehmen, glaubten sie.

So reisten zwei Widerständler, Carl Goerdeler und Kleist-Schmenzin, im Frühjahr und Sommer 1938 nach England und Frankreich, um in Geheimverhandlungen ihre hochrangigen Kontakte zu beschwören, auf eine Abkehr von der Beschwichtigungspolitik hinzuwirken. Vergeblich: Entweder waren ihre Gesprächspartner zu begriffsstutzig, um die gewaltige Chance zu erkennen, oder aber sie fürchteten, dass Stalins Kommunisten nach Hitlers Sturz in das Machtvakuum stoßen würden. 

Im britischen Kabinett wurde die Option einer militärischen Unterstützung für ein französisches Eingreifen an der Seite Prags beraten und verworfen. Premierminister Chamberlain verfolgte eine Außenpolitik, die einen Krieg unbedingt vermeiden wollte. Die Interessen der Tschechoslowakei waren ihm gleichgültig: Dass England ausgerechnet durch „diese verdammten Tschechen“ in einen Krieg hineingezogen werden sollte, erschien ihm absurd. Zudem hielt er die Klagen der Sudetendeutschen für gerechtfertigt. Somit drängten Paris und London die tschechoslowakische Regierung mit Nachdruck zu Konzessionen gegenüber Hitler. 

Angesichts wachsender Gerüchte über einen deutschen Angriff ordnete der Staatspräsident der Tschecho­slowakei, Edvard Beneš, für den 20. Mai die Mobilmachung der Armee an – noch war es falscher Alarm, aber die Furcht keineswegs unbegründet: Hitler trieb nun die Kriegsvorbereitungen für das als „Fall Grün“ bezeichnete Unternehmen voran. „Es ist mein unabänderlicher Entschluss, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen“, hieß es in der aktualisierten Weisung. 

Die Offensive sollte spätestens am 1. Oktober beginnen, um eine endgültige Fertigstellung der starken tschechoslowakischen Grenzbefestigungen zu verhindern. Nach weiteren drei bis vier Jahren wollte Hitler dann den Krieg gegen Frankreich und England suchen. Im August 1938 zog die Wehrmacht unter dem Vorwand von Manövern 750 000 Soldaten an der tschechoslowakischen Grenze zusammen. Ab dem 17. September ließ Hitler ein paramilitärisches Sudetendeutsches Freikorps formieren, welches von deutschem Territorium aus operierte und die Städte Eger und Asch besetzte. 

Generalstabschef Beck versuchte dagegen seit Juli, in der Wehrmachtsführung Mitstreiter zu gewinnen: Um Hitler in den Arm zu fallen, sollten alle Generäle geschlossen in einen Generalstreik treten und mit Rücktritt drohen. Obgleich fast die ganze Wehrmachtsspitze den Plan bejahte, scheiterte das Vorhaben und der einzige, der zurücktrat, war Beck selbst. Unter seinem Nachfolger, General Franz Halder, wurden die Staatsstreichpläne zwar weiter unterstützt, doch die Widerstandskämpfer verfolgten mit Sorge die britisch-französische Anbiederungspolitik.  

Um eine persönliche Aussprache mit Hitler zu suchen, bestieg Chamberlain zum ersten Mal in seinem Leben ein Flugzeug: Am 13. September flog er nach Deutschland und konferierte auf dem Berghof bei Berchtesgaden drei Stunden lang mit dem „Führer“. Von dessen Hetztiraden zeigte Chamberlain sich wenig beeindruckt, den Diktator nannte er gegenüber Kabinettskollegen „den ordinärsten kleinen Hund“, der ihm je untergekommen sei. 

Hitler forderte das „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ auch für das Sudetenland und somit den Anschluss an das Deutsche Reich: „Es ist mir gleichgültig, ob es einen Weltkrieg gibt oder nicht.“ Der Brite zeigte sich nachgiebig. Das überraschte Hitler nicht nur. Es war ihm ein Ärgernis: Er hoffte nun darauf, dass die ablehnende Haltung der französischen und der tschecho­slowakischen Regierung ihm einen Vorwand zum Krieg liefern würde. 

Auf dem Silbertablett

Beim zweiten Treffen mit Chamberlain wenige Tage darauf in Bad Godesberg wollte der komplett überraschte Hitler seinen Ohren nicht trauen: Die Westmächte schlugen vor, dass die Tschechoslowakei alle Gebiete mit über 50 Prozent deutscher Bevölkerung abtreten müsse. Die Unabhängigkeit des Restterritoriums würde dann von Frankreich und England garantiert werden. 

Wo Hitler doch die Eskalation und Konfrontation suchte, präsentierten sie ihm das Sudetenland auf dem Silbertablett! Nach einer kurzen Denkpause antwortete er, dass er sich erst mit der kompletten Auflösung der Tschechoslowakei zufriedengeben würde. Deren Staatsgebiet sollte auf Deutschland, Ungarn und Polen verteilt werden. Tschechoslowakische Flüchtlinge sollten nichts mitnehmen dürfen. 

Für den entsetzten Chamberlain hatte Hitler ein propagandistisches Schauspiel vorbereitet: Wie vorher abgesprochen, platzte ein Bote mit der Nachricht in die Verhandlungen, dass immer mehr Deutsche in der Tschechoslowakei Opfer von Gewalttaten würden. Hitler konfrontierte Chamberlain mit einem am 1. Oktober endenden Ultimatum – jenem Tag, an dem spätestens „Fall Grün“ eintreten sollte. Am Tag nach diesem Treffen ordnete Prag die Mobilmachung an: Binnen eines Tages eilten eine Million Soldaten zu den Waffen. 

In London tendierte Chamberlain abermals zur Nachgiebigkeit. Von französischer Seite aus an die Umsturzpläne des deutschen Widerstands erinnert, ließ er durchblicken, dass er Hitler für das kleinere Übel hielt: „Wer garantiert uns, dass Deutschland nachher nicht bolschewistisch wird?“ 

Nun formierte sich um Winston Churchill eine wachsende Opposition gegen die Appeasementpolitik,  die Beschwichtigungspolitik, die als nationale Schande empfunden wurde – Chamberlains konservative Partei drohte zu rebellieren. So rang sich das Kabinett zur Antwort durch: Ein deutscher Angriff auf die Tschecho­slowakei hätte ernste Konsequenzen, und England werde Frankreich im Falle eines Krieges mit Deutschland beistehen. 

Obwohl die Aussage nicht so resolut gemeint war, liefen in Frankreich und England Kriegsvorbereitungen an. Am 27. September ließ Hitler Wehrmachtsdivisionen für die erste Angriffswelle gegen die Tschecho­slowakei mobilisieren. Die Reaktion der Bevölkerung auf eine Parade vor der Reichskanzlei brachte ihn allerdings in Rage: Die vorbeimarschierenden Truppen lösten anders als 1914 keinen Jubel aus. Überall sah man stattdessen besorgte Gesichter. „Mit diesem Volk kann ich noch keinen Krieg führen“, kommentierte Hitler. Chamberlain konnte Italiens Regierungschef Benito Mussolini als Vermittler gewinnen, um Hitler tags darauf zu einer Friedenskonferenz zu überreden. 

Die Widerständler unter General Halder gingen davon aus, dass Hitler dabei um 14 Uhr die allgemeine Mobilmachung anordnen und den Angriff auf die Tschechoslowakei befehlen würde. Genau in diesem Augenblick wollten sie eingreifen: Oberstleutnant Oster verfügte über die Pläne der Reichskanzlei und hatte sogar dafür gesorgt, dass die Doppeltür am Eingang geöffnet wurde. Parallel sollte die Kontrolle über Goebbels’ Rundfunk übernommen und vorbereitete Proklamationen gesendet werden. 

Eigentlich war geplant, Hitler vor Gericht zu stellen: Professor Karl Bonhoeffer, Vater von Dietrich Bonhoeffer und Leiter der Psychia­trie an der Charité, sollte im Prozess Hitlers Geisteszustand begutachten. Dann jedoch bekam Oberstleutnant Heinz doch die Genehmigung, Hitler sofort zu erschießen. 

Im letzten Moment

Dann traf bei General Halder die Nachricht ein, dass Hitler im letzten Moment auf Drängen Mussolinis einer Konferenz in München am 29. September zugestimmt hatte. Die politische Legitimation für den Putsch schien in sich zusammenzubrechen. Statt der Angst vor einem Krieg ging die Popularität des „Friedensstifters“ Hitler durch die Decke. Vergeblich versuchten einzelne Stimmen, General Erwin von Witzleben dennoch zum Losschlagen zu überreden. Die enttäuschte und paralysierte Führung des Widerstands brach die Aktion jedoch ab. Sie hätte vielleicht bessere Erfolgsaussichten als der 20. Juli 1944 gehabt. 

Tatsächlich gab es auf dem Gipfeltreffen im Münchner Führerbau zwischen Hitler, Mussolini, Chamberlain und dem französischen Premierminister Édouard Daladier auf der anderen Seite nicht mehr viel zu verhandeln – die grundsätzlichen Bestimmungen des Münchner Abkommens über die Abtretung des Sudetenlandes standen längst fest. Mussolini durfte einen zuvor von deutscher Seite ausgearbeiteten Entwurf als seinen eigenen einbringen. Dieser wurde nach der Klärung der Detailfragen am 30. September um 1.30 Uhr nachts unterschrieben. 

Die tschechoslowakische Regierung war zu diesem Treffen gar nicht erst eingeladen worden: Chamberlain und Daladier informierten sie darüber, dass sie entweder das Diktat akzeptieren oder allein gegen Hitler kämpfen könnten. München bedeutete für die entsetzten und verbitterten Tschechoslowaken auch, dass sie ihre Grenzbefestigungen und große Teile ihrer Industriegebiete verloren. 

Vom 1. bis 10. Oktober rückte die Wehrmacht von der deutschen Bevölkerung bejubelt ins Sudetenland ein, am 3. Oktober zog Hitler im Triumph in Eger ein. Den Truppen folgten die Gestapo und der Sicherheitsdienst: 20 000 deutsche Andersdenkende und Exilanten, die nach 1933 über die Grenze geflohen waren, wurden nun verhaftet, das Sudetenland analog zum restlichen NS-Staat gleichgeschaltet. Es begann die Vertreibung der tschechischen und jüdischen Bevölkerung.  

Der naive Chamberlain glaubte Hitlers Versprechungen, dass das Deutsche Reich nach dem Anschluss des Sudetenlandes keine weiteren Ansprüche mehr stellen werde, es sogar zu einer Annäherung zwischen Berlin und London kommen könne und der Friede gerettet sei. Anders der niedergeschlagene Daladier, der die jubelnden Franzosen als „Idioten“ verurteilte. 

Der Höhepunkt der britisch-französischen Appeasementpolitik beruhte auf einer völligen Fehleinschätzung der Persönlichkeit und der expansiven Absichten Hitlers: Bereits im März 1939 brach Hitler das Münchner Abkommen, marschierte in Prag ein und errichtete das „Protektorat Böhmen und Mähren“. Die Regierungen in London und Paris hatten die letzte Chance des deutschen Widerstandes durchkreuzt, Hitler zu beseitigen und den Weltkrieg abzuwenden. 

Michael Schmid

27.09.2018 - Ausland , Historisches , Politik