Weihbischof Anton Losinger im Exklusiv-Interview:

Die Fehler nicht wiederholen

Der Bayerische Ethikrat fordert eine interdiszi­plinäre Task-Force, um die Auswirkungen der Corona-Pandemie zu bewältigen. Das Gremium solle aus Wissenschaftlern, Pädagogen, Medizinern sowie Sozial- und anderen Experten bestehen, heißt es in einer Stellungnahme des Ethikrats zur Situation Bayerns in der Pandemie. Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger, Ratsmitglied und Ethik-Experte, erläutert im Exklusiv-Interview, wie diese Task-Force arbeiten soll und inwiefern ein solches Gremium auch für andere Bundesländer sinnvoll wäre. 

Herr Weihbischof, dies war die erste Stellungnahme des noch relativ neuen Bayerischen Ethikrats – und gleich stand ein so brisantes und komplexes Thema auf der Tagesordnung. Können Sie kurz umreißen, worum es in der Stellungnahme geht?

Nachdem der Bayerische Ethik­rat im Oktober 2020 durch die Staatsregierung eingesetzt worden war, legt er nun seine erste Veröffentlichung vor. „Stellungnahme zur Situation Bayerns in der Pandemie“ lautet der Titel. Es geht um die herausfordernden Fragen, die Covid-19 nicht nur in medizinischer, sondern in gesamtgesellschaftlicher Sicht aufwirft, und die die Politik weltweit zum Handeln zwingen. Im Blick auf die Handlungsempfehlungen für die Bayerische Staatsregierung finden sich sehr detaillierte Orientierungen, die nicht nur den Umgang mit den medizinischen Herausforderungen betreffen: Impfpriorisierung etwa, Inzidenzraten und Versorgung. Sie lenken den Blick auf die gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit. Sie betreffen vom Familienleben über Bildung und Schule, über Arbeit und Studium hinaus speziell die Probleme der sogenannten vulnerablen Gruppen, die sich durch eine besondere Verletzlichkeit im Blick auf Corona auszeichnen. Dabei ist der Blick des Ethikrats nicht nur ein Thema der Aufarbeitung, sondern der Zukunftsvorsorge. „Wir warnen dringend davor, wie im Jahr 2020 die Aufmerksamkeitsspannung bei der Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen aus dem Blick zu verlieren und dann im Herbst von absehbaren Entwicklungen überrascht zu werden“, heißt es in der Stellungnahme. Hier fließen die breit gestreuten professionellen Kompetenzen der Ethikratsmitglieder zusammen und ergeben eine sehr klare, handlungsorientierte Perspektive für die Politik. 

Wem kann die geforderte Task-Force besonders helfen und wie einflussreich wäre sie?

Der Gedanke der Einrichtung einer interdisziplinären Task-Force ist ein Vorschlag an die Politik, um in möglichst breiter gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Kompetenz zeitnah Planungsgrundlagen zu entwerfen, wie mit Szenarien einer Pandemie zukünftig umgegangen werden soll. Hintergrund dieses klugen Rats ist, anfällige Strukturen und Prozesse identifizieren zu können und für kommende Herausforderungen gerüstet zu sein. Im internationalen Kontext gibt es bereits vergleichbare Institute, die in der wissenschaftlichen Politikberatung etabliert sind. Dazu gehören etwa die „Scientific Advisory Group for Emergencies“ (SAGE) in Großbritannien oder das „Office for Science and Technology Policy“ (OSTP) in den USA. Selbstverständlich bemisst sich der Einfluss solcher Beratungsinstitutionen immer an der Qualifikation und der Autorität, die ihnen von der Politik zugemessen wird. 

Gibt es spezielle Empfehlungen für die Unterstützung benachteiligter Kinder und Jugendlicher?

Unter den von der Pandemie besonders betroffenen und benachteiligten Gruppen nimmt der Bayerische Ethikrat besonders Kinder und Jugendliche, Schülerinnen und Schüler wahr. Sie haben ganz besonders unter den Einschränkungen zu leiden gehabt, da neben dem Fami­lienumfeld vor allem der Einbruch im Schulleben und in der Freizeitgestaltung bedeutende Bewegungs- und Kontakteinschränkungen mit sich brachte. Vor allem das Thema Digitalisierung brachte bereits bestehende Ungleichsstrukturen verstärkt zum Vorschein. Gerade Familien, die in besonderem Maße auf stabile sozia­le Unterstützungsstrukturen angewiesen sind, waren stark betroffen. Dabei geht es dem Ethikrat nicht nur um die Instrumente und Prozesse, die einer weitgehend unterentwickelnden Didaktik im Digitalzeitalter abhelfen können. Es geht auch um eine breit gefächerte Unterstützung im schulischen, familiären und sozialen Bereich, die sich Ungleichheitseffekten in der Gesellschaft annimmt. Um diesen Ungleichheitseffekten im Corona-Zeitalter gerade in benachteiligten Milieus abzuhelfen, braucht es mehr als nur pädagogische Projekte an den Schulen. Es braucht Begleitung und Unterstützung, die weit über die Vermittlung des versäumten Stoffs hinausgehen, von Sommerschulen über verstärkte Therapieangebote, von Betreuungs- und Finanzierungskonzepten im Jugendbereich bis hin zu einer soliden digitalen Grundausstattung von Schülern und Jugendlichen in ihrer familiären Heimat und ihrem „Arbeitsplatz“ Schule.

Der Ethikrat schlägt für das Frühjahr 2022 einen bayernweiten Kongress vor, um mögliche Konsequenzen der Pandemie zu diskutieren und Polarisierungen in der Öffentlichkeit entgegenzuwirken. Wer wird dabei mit ins Boot geholt, um nachhaltig etwas zu bewirken? Und was soll konkret unternommen werden, um Polarisierungen zu entkräften?

Bereits der Deutsche Ethikrat, dessen langjähriges Mitglied ich war, hatte in seinem Aufgabenheft, das durch das deutsche Ethikratgesetz (EthRG) definiert ist, nicht nur die Beratung des Deutschen Bundestags und der Bundesregierung zum Ziel – etwa durch Stellungnahmen, die die ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften betreffen. Darüber hinaus bestand auch immer der Auftrag, „die Öffentlichkeit zu informieren und öffentliche Diskussion zu fördern“.Insbesondere die Jahrestagungen des Deutschen Ethikrats und die Bioethikforen kamen diesem Auftrag nach. Deshalb halte ich den Vorschlag des Bayerischen Ethikrats an die Bayerische Staatsregierung, im Frühjahr 2022 einen großen bayernweiten Kongress auszurichten, für zielführend und richtig. Die angedachten Ziele eines solchen Kongresses betreffen sowohl die Reflexion der Folgen der Pandemie als auch Überlegungen zu Konsequenzen für künftige Krisenbewältigungen. Auch die Frage der Polarisierung der öffentlichen Diskussion im Umfeld der Corona-Pandemie sollte in einer breiten und kompetenten öffentlichen Debatte zur Sprache kommen. „Das Ziel ist, nicht nur Lehren aus dem Geschehenen zu ziehen, sondern auch Konfliktparteien die Möglichkeit zu geben, aufeinander zuzugehen und somit zur Bewältigung der schwierigen Situation beizutragen“, formuliert es der Bayerische Ethikrat. Damit könnte ein solcher Kongress eine gute Gelegenheit bieten, Polarisierungen in der Öffentlichkeit, wie sie in den vergangenen Monaten zuhauf wahrgenommen wurden, zu überwinden und gemeinsame Lehren aus der Pandemie und ihrer Bewältigung zu ziehen.Wer auch immer aus der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu einem solchen Kongress ins Boot geholt werden sollte und welche konkreten Themenfelder ein solch öffentlicher Kongress angehen sollte, müsste dann zu gegebener Zeit geklärt und festgelegt werden. 

Wäre ein Gremium wie die interdisziplinäre Task-Force nicht auch für andere Bundesländer sinnvoll?

Eine der spannenden Fragen im Umfeld der Corona-Debatte war immer: Haben wir ein Erkenntnis- oder ein Handlungsproblem? Zu handeln, ohne zu erkennen, ist politisch und gesellschaftlich fatal. Zu erkennen, ohne zu handeln, ist gesellschaftszerstörend und vernichtet Vertrauen. Darum könnte eine interdisziplinäre Task-Force in einer zeitnahen, handlungsorientierten Beratung der Politik auf der Grundlage breiter und kompetenter, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Expertise eine gute Chance nicht nur für Bayern sein. Das föderale Politiksystem der Bundesrepublik Deutschland und die differenzierte Kompetenz zwischen Bund, Ländern und Gemeinden setzen natürlich unterschiedliche Kompetenzen und Zuständigkeiten voraus. Bei übergreifenden Fragestellungen, wie sie die Covid-Pandemie zweifellos mit sich brachte, wäre ein kluges länder­übergreifendes und integrierendes Nachdenken über Zukunftsfragen und deren Lösungen sicherlich nicht falsch. Sagte doch Albert Einstein, der Nobelpreisträger und Entdecker der Relativitätstheorie, einmal süffisant: „Wir leben heute mit einem Überfluss an Mitteln, aber mit einem Mangel an Zielen!“ 

Interview: Victoria Fels

23.06.2021 - Bischöfe , Corona , Politik