Frankreich-Urlauber, die den Norden des Landes mögen, fahren meist in die Normandie oder die Bretagne. Die Küste der Picardie lassen sie links liegen. Dabei bietet die Region mit ihren charmanten Städtchen ganz viel: für Naturliebhaber, kulturell interessierte Reisende – und nicht zuletzt Pilger.
„Mir gefallen die Küste und das Meer – alles nicht so überlaufen. Es ist eine sehr schöne Landschaft mit den Kreidefelsen. Und für die Kinder ist es super“, sagt eine deutsche Mutter, die die Picardie im Corona-Sommer 2020 bereist hat. Sie und ihre Familie kommen aus dem rheinländischen Dinslaken. Besonders angetan hat ihnen Mers-les-Bains, ein kleiner, aber berühmter Ferienort direkt an der Grenze der Picardie zur Normandie.
Mers-les-Bains liegt an der Mündung der Bresle. Gerade wenn hier die Flut einsetzt, machen die vielen Steine das Baden nicht ganz leicht. Bei Ebbe aber kommt der feine Sandstrand zum Vorschein – fast so wie bei den Gezeiten an der deutschen Nordseeküste. Nur dass es hier zusätzlich die imposante Steilküste gibt, wo herrliche Wanderungen möglich sind.
Schon im 19. Jahrhundert fuhren reiche Pariser nach Mers und bauten ihre geschwungenen, reich verzierten Villen in bunten Farben direkt an den Strand. Der Vater der Familie aus Dinslaken spricht vom „morbiden Charme und Jugendstilpomp vergangener Zeiten“. Und Christian aus Salzburg meint zu der geschlossenen, denkmalgeschützten Häuserfront am Meer: „Es ist fast ein bisschen wie Disneyland. Das Schöne ist, das hier nicht alles voller Restaurants und Geschäfte ist, sondern das sind Wohnhäuser mit sehr hübscher Anmutung.“
Mit seiner Familie ist der Österreicher am Strand spazieren gegangen – „und dann hinauf zu den Klippen dort oben zur Maria“. „Ave Maria Stella“ ist unter der weißen Maria mit dem Jesuskind zu lesen, die hoch über der Kanalküste die Menschen segnet – von einem ehemaligen Bunker der deutschen Wehrmacht aus. Seit mehr als 65 Jahren blickt die „Madonna auf der Felswand“ („Notre-Dame-de-la-Falaise“) über Mers-le-Bains bis nach Tréport in der Normandie.
1878 wurde die Plastik in Gegenwart von rund 8000 Gläubigen gesegnet. Während des Ersten Weltkriegs gingen unzählige Frauen zur Muttergottes und beteten für ihre Männer, Brüder und Söhne, die im Krieg für Frankreich kämpften. Der Rosenkranz war stets dabei. Im Volk hieß der Weg von der Kirche im Ort bis zu Maria daher der „Ave-Pfad“.
Prozessionen zur Muttergottes „Ave Maria Stella“ fanden auch während des Zweiten Weltkriegs statt. Die deutschen Besatzer aber verlangten die Entfernung der Madonnenfigur, weil sie an ihrer Stelle ihre Verteidigungsanlagen gegen befürchtete Angriffe der Alliierten bauen wollten. So wurde die Maria von der Küste zur Kirche in die Ortsmitte verlegt.
Zehn Jahre nach Kriegsende, am 15. August 1955, dem Hochfest Mariä Himmelfahrt, kehrte die weiße Gottesmutter an ihren angestammten Platz zurück und wurde auf einen Wehrmachts-Bunker vom Typ R651 gesetzt. Seither heißt sie auch „Notre-Dame auf dem Bunker“. Auf einer Tafel ist in Deutsch, Französisch und Englisch zu lesen: „Ein Friedenswerk besiegt ein Kriegswerk.“
Unter Maria sind die Schutzpatrone Laurentius, Jakobus und Martin – für die Städte Eu, Tréport und Mers – als Hochrelief angebracht. Nachts wird die Statue in verschiedenen Farben angestrahlt. Sie dient auch Fischern und Seefahrern zur Orientierung. Wenn sie auf dem Meer an der Madonna vorbeifahren, bekreuzigen sich viele Seemänner und beten ein „Gegrüßet seist du, Maria“.
Rund sechs Kilometer nordöstlich von Mers liegt Ault. „Wir nennen uns ‚Balcon sur Mer‘“, erklärt Didier Fillon vom örtlichen Touristenbüro. Balkon zum Meer – da haben sich die Marketingexperten etwas durchaus Passendes ausgedacht. An kleinen Tischen am Meer kann man hier sein frisches Baguette mit Käse oder dem leicht gesalzenen regionalen Lammfleisch essen, dazu Oliven und vielleicht einen Cidre oder Rotwein trinken. In der Ferne am Horizont versinkt die Sonne ganz langsam im Meer.
Weiße Kreidefelsen
Die blendend weißen Kreidefelsen gefielen schon Victor Hugo (1802 bis 1885). Der berühmte französische Romancier war hier im September 1837 und erwähnte den Ort in seinen Werken. „Gott schuf nur das Wasser, aber der Mensch schuf den Wein“ – ob Hugo hier zu seiner alkoholseligen Erkenntnis fand, die auf der Menükarte als Motto eines örtlichen Restaurants zu lesen ist?
Die ältesten Urkunden datieren die Stadt ins zwölfte Jahrhundert. In dieser Zeit wurde auch der Grundstein der Kathedrale im Zentrum gelegt, die im Normalfall zahlreiche Touristen anzieht. Die Auswirkungen der Corona-Krise sind auch in der Picardie zu spüren. Im Sommer 2020 wurden in Ault im Vergleich zum Vorjahr etwa 20 bis 30 Prozent weniger Touristen gezählt, erklärt Didier Fillon. Für diesen Sommer wagt wohl noch niemand eine
Prognose.