„Día de Muertos“

Die elegante Dame des Todes

Allerheiligen und Allerseelen werden am Beginn eines nebligen und nasskalten Herbstmonats gefeiert. Das ist kein Zufall. Man verband damit die Erfahrung der sterbenden Natur mit welken Blättern, abgeernteten Feldern und zunehmender Dunkelheit. Der Gedanke an den Tod liegt nahe. Dass die stillen Tage auch anders begangen werden können, zeigt das Fest der Toten in Mexiko.

Es gleicht einem Jahrmarkt mit Kirmesangeboten und fliegenden Händlern. In jeder Stadt, jedem Dorf finden sich schon Tage vor Allerheiligen Schausteller ein, die ihre Stände aufbauen und Totenköpfe aus Zuckerguss, häufig mit dem Namen der Verstorbenen verziert, anbieten. In Mexiko-Stadt säumen riesige bemalte Kunststoff-Totenköpfe die Prachtstraße Paseo de la Reforma. 

Es gibt farbenfrohe Prozessionen zu Ehren der Verblichenen, und gleich mehrere Skelette in prächtigen Gewändern und mit Hüten toben sich auf ihren Fahrrädern aus. Hauptfigur der Toten ist La Catrina. Die elegante Skelett-Dame wird besonders häufig dargestellt. Vermutlich wurde sie zwischen 1910 und 1913 von dem mexikanischen Kupferstecher José Guadalupe Posada geschaffen, um sich über die europäisch geprägte mexikanische Oberschicht lustig zu machen. 

Grinsendes Skelett

Als Diego Rivera, Ehemann der Malerin Frida Kahlo, „La Catrina“ in seinem Gemälde „Sonntagsträumerei in der Alameda“ aufgriff, verselbstständigte sich der Kult um das weibliche Skelett mit dem breiten Grinsen, das Lebensfreude im Angesicht des Todes darstellen soll. Seit 1948 gehört La Catrina zur kulturellen Identität des Landes. Dabei steht sie nicht nur für den „Tag des Todes“, sondern auch für die Bereitschaft der Mexikaner, den Sensenmann nicht nur auszulachen, sondern ihn auch zu feiern. 

Schon die Azteken huldigten den ganzen Monat August hindurch Mictecacihuatl als Göttin des Todes und des Jenseits. Heute geht man davon aus, dass ihr Kult um Mictecacihuatl der Ursprung des mexikanischen „Día de Muertos“ (Tag der Toten) und der Darstellung von La Catrina ist. Als die Spanier Mittelamerika eroberten, wurden die Feierlichkeiten christianisiert und auf Anfang November verlegt.  

Die Kleinstadt Guanajuato, vier Autostunden von Mexiko-Stadt entfernt, gilt als einer der Hauptorte der Feierlichkeiten. Schauspieler des prächtigen Teatro Principal tragen elegante Roben und haben ihre Antlitze als Totenköpfe geschminkt. Blumenteppiche liegen auf den Straßen, es gibt Musik und Tanz. Man will fröhlich sein, die Toten zu den ausgelassenen Feiern einladen und ihnen damit zeigen, dass sie nicht vergessen sind. 

Auf dem Friedhof Santa Paula versammeln sich die Menschen. Unter ihnen ist Margarita. Sie verlor ihren Sohn José del Carmen vor 24 Jahren durch einen Unfall. Er wurde nur vier Jahre alt. Seitdem verbringt Margarita jedes Jahr die Nacht vom 1. auf den 2. November an seinem Grab. Dabei hat sie Essen und einen Rekorder mit Kindermusik. Die Eltern früh verstorbener Kinder feiern den 1. November als „Día de los Angelitos“ (Tag der kleinen Engel). Der 2. November ist denen gewidmet, die im Erwachsenenalter verstorben sind. Niemand wird an diesen Tagen vergessen.

Maria del Carmen hat zehn Söhne. Doch heute ist sie wegen ihres Vaters José Rodolfo da, der vor 28 Jahren verstarb, und wegen ihrer vor einem Jahr verstorbenen Mutter. Begleitet wird sie von ihrem Enkel Mario und ihrer Enkelin Gabriella. Sie helfen der Großmutter, Plastikdeko auf das Grab zu legen und Campingstühle aufzustellen, denn auch sie werden die ganze Nacht bei den Ahnen verbringen.

Ein paar Grabreihen weiter verschönern vier Mitglieder der Familie Cervantes Ugalde den Grabstein mit Blumenschmuck. Am darauf folgenden Tag ist dann die große Feier. Vom mitgebrachten Cassettenrecorder ertönen lautstark folkloristische Mariachi-Lieder. „Das war die Lieblingsmusik unseres Papas“, erklärt ein Jugendlicher.

Auch die 15 Mitglieder der Familie Almaraz Hernandes finden sich am 2. November in Santa Paula ein. Sie bleiben für drei bis vier Stunden am Grab und sprechen mit den Ahnen: „Wir reden mit ihnen über unsere Probleme und bitten sie um Rat.“ Ein wichtiges Anliegen sei die Erziehung des Sohnes. „Die Geister unserer Verstorbenen antworten, und wir alle können sie hören“, behauptet Maria de Lourdes Cardezo, eine Tante des Familienclans.

Auch Familie Salazar Carillo ist bereits seit sechs Stunden am Mausoleum, Großmutter Adela Carillo Gonzales sogar noch länger. „Drei Verwandte sind hier begraben“, sagt die 86-Jährige. Ihr ältester Sohn betet. Sie nickt Maria de Lourdes Cardezo nebenan zu. „Wir werden erst mit Einbruch der Nacht mit den Toten reden.“ 

Im hinteren Teil von Santa Paula betet Luiz Francisco Rangel am Grab des Vaters und der Großmutter. „Das hat Tradition“, sagt er und beugt sich hinunter. „Ich komme alle drei bis vier Monate, obwohl ich weiter entfernt in der Stadt Leon wohne. Aber ich bin in Guanajuato geboren und wir haben unser Familiengrab hier.“

Außerhalb des Friedhofs, in den Straßen des zentralmexikanischen Städtchens, brodelt das Leben. Eine Prozession zieht mit lauter Musik vorüber, und im ruhigen Innenhof der Universität legt Gwendolyn unzählige bunte und duftende Blüten zu einem fantasievollen Teppich zusammen. Gewidmet ist er dem verstorbenen Rektor der Universität. „Wir machen das jedes Jahr und wollen ihn und das, was er für unser Institut getan hat, ehren.“

Kleine und große Kinder, Mütter und Väter, Arme und Reiche – zum Zeitpunkt des Todes sind sie alle gleich. Das gilt nicht nur in Mittelamerika, sondern in der ganzen Welt. Deshalb, meinen die Menschen hier in Mexiko, ruft La Catrina nicht nur die Lebenden zum Feiern auf, sondern auch die Toten.

Sabine Ludwig