Seyran Ates zum Muezzinruf in Köln:

Ein Ruf als Machtdemonstration

Seit kurzem darf aus der Zentralmoschee der Ditib in Köln ein Muezzin über zwei Lautsprecher zum Gebet rufen. Seyran Ateş, Rechtsanwältin, Menschenrechtsaktivistin sowie Mitbegründerin der liberalen Ibn Rushd-Goethe Moschee in Berlin, sieht den Ruf als Machtdemonstration und warnt vor einer unkritischen Betrachtung:

Aus den Medien habe ich entnommen, dass der Ruf weniger als fünf Minuten gedauert habe. Der Muezzin soll in unmittelbarer Nähe der Moschee gestanden haben. Und nur dort soll er zu hören gewesen sein. Es wird berichtet, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite einige Menschen mit Sprechchören und Transparenten gegen den Muezzin-Ruf demonstriert haben. Ihnen ging es nicht nur um den Ruf, sondern auch um die Unterdrückung von Frauen in Iran. Auf einem Transparent hieß es: „Kein Muezzin-Ruf in Köln! Der öffentliche Raum sollte weltanschaulich neutral sein.“ Der stellvertretende Vorsitzende im Ditib-Bundesvorstand, Adurrahman Atasoy, äußerte sich gegenüber Medien sehr glücklich. 

Mir fällt es schwer, diesen Schritt zu feiern. Wir leben in Deutschland leider noch nicht in so entspannten Verhältnissen, dass das Läuten von Kirchenglocken und der Muezzin-Ruf im öffentlichen Raum die gleichen Bedeutungen tragen. Das Läuten der Kirchenglocken ist schon lange kein Zeichen für eine Übermacht der Kirchen mehr. Der öffentliche Ruf eines Muezzins aus einer Erdoğan-nahen Ditib-Moschee ist dagegen eine Machtdemonstration. 

Diejenigen, die meinen, dass es kein Problem sei, weil der Kölner Bezirk, wo die Moschee steht, ohnehin multikulturell wäre, irren. Denn der Muezzin und die Anhänger dieser Moschee sind ganz sicher keine großen Freunde einer pluralen und offenen, multikulturellen Gesellschaft. Wer so etwas blind behauptet, muss nur die Bibliothek der Moschee durchforsten. Mir wurde berichtet, dass dort Bücher von Autoren ausgelegt werden, die den Muslimbrüdern nahestehen. 

Da ich es nicht selbst gesehen habe, mögen sich die Kölner am besten ein eigenes Bild von der Ditib-Gemeinde machen und nicht nur aus der Ferne gut finden, was in ihrer Stadt angeblich alles an Vielfalt umgesetzt wird. Ob sie vorfinden, was sie sich vorstellen?
Ich bezweifle es.

Seyran Ateş

26.10.2022 - Deutschland , Islam , Politik