Für die einen ist es Neugier, für andere sportlicher Ehrgeiz oder die Suche nach Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. Manchen treibt aber noch immer ein bestimmtes Anliegen zur Wallfahrt. So wie die junge Frau, deren Bruder seit seinem Autounfall mit dem Tod kämpft. Für ihn zu beten hat sich die Schwester deshalb vorgenommen, die sich auf den weiten Weg nach Walldürn gemacht hat. Zum Heilig-Blut-Altar, der einmal jährlich für vier Wochen zum Treffpunkt der Gläubigen wird.
Bis zu 80 000 Pilger zählt das Städtchen im Süden des Odenwalds in diesen Tagen. Menschen aus allen Regionen, die in der Wallfahrt wie Generationen vor ihnen ein Stück Seelenheil suchen. Trost und Zuflucht, in der Regel aber nur ein bisschen Zufriedenheit. Vor allem aber Geselligkeit, weshalb die Touren nach Walldürn immer viele Freunde haben, zunehmend auch junge Leute.
Schockierter Priester
Die Ursprünge der Wallfahrt liegen im Jahr 1330: Ein Priester soll damals die Eucharistie sehr nachlässig vollzogen haben. Er stößt den konsekrierten Kelch um, Blut tritt aus dem Gefäß aus und formt auf dem Korporale, dem Altartuch, ein Bild: der Gekreuzigte mit mehreren dornenbekrönten Häuptern. Der schockierte Priester versteckt das Bild. 50 Jahre später liegt er im Sterben, doch irgendetwas hält den Mann am Leben. Erst als er das Versteck des Bildes preisgibt, stirbt er.
1445 erkannte Papst Eugen IV. das Blutwunder an. Verbunden damit: ein mindestens dreijähriger Ablass der Sündenstrafen für alle Gläubigen, die nach Walldürn pilgern – und dort eine Spende hinterlassen. Zu dieser Zeit hatte längst eine große Pilgerbewegung in die Kleinstadt eingesetzt. Sie hält bis heute an. Zu Fuß, mit dem Fahrrad, der Bahn, ja sogar mit dem Kleinflugzeug kommen Pilger in den beschaulichen Odenwald-Ort. In diesem Jahr steht die Wallfahrt unter dem Leitwort „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“.
Die ersten Wallfahrer kamen aus der Nachbarschaft. Menschen aus dem Odenwald und vom Main, die mit Naturalien nach Walldürn reisten. Mit Schafen und Lämmern, Korn und Eiern, die sie der Kirche spendeten. Pest und Bauernkrieg bremsten den Besucherstrom. Die Reformation brachte die Pilgerfahrten fast ganz zum Erliegen.
Erst im 17. Jahrhundert lebte die Wallfahrt wieder auf. Orden wie die Jesuiten förderten den Pilgergedanken aufs Neue. Würzburg, Köln und Aschaffenburg organisierten lange Wanderungen in den Odenwald. Vielerorts gründeten sich Bruderschaften, die sich die Verehrung des Heiligen Bluts zu Walldürn auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Am Pfingstfest 1683 fanden sich im thüringischen Küllstedt erstmals mehr als 100 Männer und Frauen zusammen, um nach Walldürn zu laufen. Der Fußmarsch, der als „Eichsfelder Walldürn-Wallfahrt“ bekannt ist, wird noch heute gepflegt.
Den nächsten Dämpfer bescherte die Aufklärung den Wallfahrtsfeierlichkeiten. Überall strichen Bischöfe liebgewonnene Feiertage, teilweise wurde das Pilgern „ins Ausland“ ganz verboten. „Dergleichen Reisen“, beschied etwa Fuldas Regierung den Wallfahrern, haben nicht nur „auf die Moralität und auf die Gesundheit den nachtheiligsten Einfluss“, sondern hielten die Menschen auch von der Arbeit ab, die so „an den Müssiggang und das Betteln gewöhnt werden“.
Den echten Pilger aber störte das wenig, zumal Bahn und Auto schließlich die Reisezeit um Tage verkürzen sollten. Besonderen Zulauf fanden die Wallfahrten unmittelbar nach den beiden Weltkriegen, als es Zehntausende nach Walldürn zog. Frauen vor allem, die dort für ihre gefangenen oder verwundeten Männer beteten und oft nur mit Lappen an den Füßen oder ganz barfuß unterwegs waren.