Rituelle Reinigung

Friede, Freude, Lavendelwasser

Christliche Religion und afrikanischer Götterglaube würden sich in Salvador de Bahia in einträchtiger Harmonie vermischen – so steht es im Tourismusprospekt. Aber vom beschworenen Synkretismus, der Verschmelzung verschiedener religiöser Ideen zu neuen Formen, ist in Salvador wenig zu spüren. Was aber gepflegt wird, ist ein friedliches Nebeneinander der etwa 180 katholischen Kirchen mit den rund 3000 „Terreiros“, den Tempeln von Condomblé-Gläubigen. Und jedes Jahr im Januar gibt es eine gemeinsame Prozession.

Was in Europa nur Techno-Partys wie die Loveparade schaffen, gelingt in Salvador de Bahia einem religiösen Anlass. Jedes Jahr am „großen Waschtag“, dem Fest von Bonfim, strömen in der brasilianischen Stadt am Meer eine Million Menschen auf der acht Kilometer langen Straße zur Basilika do Bonfim. An dem fröhlichen religiösen Fest, das jedes Jahr am zweiten Donnerstag nach Epiphanie stattfindet, nehmen Menschen aller Hautfarben und unterschiedlicher Gottesvorstellungen teil.

Unter den Pilgern sind Katholiken – aber auch Anhänger der afrikanischen Götterwelt der Oriaxá. Weißgekleidete Frauen tragen Vasen auf dem Kopf, die gefüllt sind mit lavendelparfümiertem Wasser und weißen Blumen. Vor der Kirche Nosso Senhor do Bonfim (Unserem Herrn vom Guten Ende) werden die Treppen rituell mit dem Wasser aus den Vasen gereinigt. Ursprünglich wurde dabei auch das Innere der Kirche gesäubert. Heutzutage ist die Reinigung nur noch symbolisch.

Die Motivationen in den Reihen der Pilger sind ganz unterschiedlich. „Ich löse ein Versprechen ein“, verrät Magali Dantas im Teenager-Alter, mehr dazu will sie nicht preisgeben. Die Mittfünfzigerin Irene Garcia Cruz ist gesprächiger: „Ich will dem Senhor für meine Gesundheit danken.“ Und ein paar Wehwehchen, die sie noch plagten, ließen sich „se Deus quizer – so Gott wolle“ vielleicht auf diesem Weg eliminieren. Der Taxifahrer Raimundo Teles hat bei seinem Bittgang ebenfalls konkrete Wünsche: „Ich möchte dieses Jahr zu einer Stange Geld kommen.“ 

Pater Edson Menezes von der Kirche am Pilgerziel sieht die „Lavagem“ als Ausdruck der Hoffnung: „Das Pilgern zum Bonfim gehört allen. Es ist eine große Manifestation des Glaubens in unserem Volk, eine große Feier. In einer von Abspaltungen und Trennungen geprägten Welt, bei all den Schwierigkeiten im Dialog zwischen den Religionen, ist diese Prozession eine vorbildliche Lektion. Sie lässt uns die spirituelle Verbindung im Glauben zwischen den Menschen ahnen.“

Von einem Teil der Prozessionsteilnehmer wird Oxalá verehrt, der höchste Gott der Yoruba-Religion. Die Katholiken in der Menge wallfahren zu Jesus Christus. Wer vor fast 250 Jahren den Impuls gab zu diesem Ritual, die katholische Kirche oder der überlieferte Götterglaube – es lässt sich nicht mehr feststellen. Vermutlich wurde aus einer einstmals einfachen, alljährlichen Kirchenreinigung im Laufe der Zeit ein Groß­ereignis. Beide Reli­gionen kennen rituelle Waschungen: Sie stehen für Reinigung und Neubeginn.

Die acht Kilometer Pilgerweg sind kein einfacher Sonntagsspaziergang. Inbegriffen sind nicht selten brütende Hitze und Gedränge, Sonnenbrand, ein ermüdender Gang über heißen Asphalt und Blasen an den Füßen.

Ursprung in Sklavenzeit

Salvador, bis 1763 noch Brasi­liens Hauptstadt, ist heute ein Zentrum afro-brasilianischer Lebensart. Gut zwei Drittel der drei Millionen Einwohner sind Nachfahren früherer Sklaven. Im Hafen von Salvador kam der größte Teil der rund fünf Millionen Afrikaner an, die von den Portugiesen aus Westafrika in die Sklaverei verschleppt wurden.

Sie wurden auf dem zentralen Sklavenmarkt Salvadors, dem Pelourinho,  verkauft und dann zur Arbeit auf den Plantagen und Zuckerrohrfeldern im Recôncavo rund um die Allerheiligenbucht gezwungen. 

In Massen wurden sie zwangsgetauft. Es wurde ihnen untersagt, weiterhin an ihre ursprünglichen Götter zu glauben. Aber eine Unterweisung im christlichen Glauben fand nicht statt. Stehend, hinten in der Kirche, war es ihnen gestattet, dem Gottesdienst ihrer Herrschaften beizuwohnen. Die Schwarzen, großteils aus dem Volk der Yoruba in Nigeria stammend, glaubten im Herzen weiterhin an ihre eigenen Gottheiten – und tun es bis heute. Nur zum Schein taten sie so, als ob sie zum Christentum bekehrt seien.

Heilige als Tarnung

Wenn die Sklaven zu Jesus, Maria und anderen Heiligen beteten, hatten sie ihre eigenen Götter als katholische Heilige „verkleidet“: Jede Orixá – so werden die afrikanischen Gottheiten bezeichnet – hatte einen Santos aus dem Heiligen-Kalender der Portugiesen zur Tarnung. Ihr Gott Ossâim, der als Herr der medizinischen Pflanzen galt, wurde dem heiligen Benedikt zugeordnet. Ogum wurde zum heiligen Anto­nius von Padua, Oxossi wurde vom heiligen Georg dargestellt und die Yansã verbarg sich in der Statue der heiligen Barbara. 

Oxalá, das Oberhaupt der Götterfamilie der Orixás, wurde Jesus Christus zugeordnet. Und wenn die Sklaven das Bild der Gottesmutter Maria verehrten, dachten sie dabei an ihre Meeresgöttin Iemanjá, die in ihrem Glauben Weiblichkeit, Schönheit und Fruchtbarkeit symbolisiert. Unter dem Deckmantel des Katholizismus konnte die afrikanische Religion die Zeit der Sklaverei überdauern.

Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Katholizismus die offizielle Staatsreligion in Brasilien. Mit der Ausrufung der Republik 1889 begann eine neue Zeit. „Es herrscht völlige Religionsfreiheit und niemand darf wegen seiner Religion verfolgt werden“, stand in der neuen Verfassung. Der damalige Erzbischof von Salvador, Luís Antônio dos Santos, befürchtete Schlimmstes – und verfügte noch im gleichen Jahr ein Verbot der „Lavagem do Bonfim“. Die Gläubigen in Salvador trauten sich erst nach seinem Tod wieder zur Prozession auf die Itapagipe-Halbinsel.

Heute wird die Religion der einstmaligen Sklaven Condomblé genannt. Für ihre Anhänger gibt es etwa 16 Orixás in einer Götterfamilie – ähnlich jenen der alten Griechen oder der Germanen. Die Orixás haben ähnliche Charakterzüge und Schwächen wie Menschen  und stehen in direktem Bezug zur Welt und den hiesigen Geschehnissen. Menschen können nur in Trance mit ihnen in Kontakt treten. Priesterinnen und Priester – „Mães-de-santo“ und „Pães-de-santo“ – vermitteln diese Verbindungen. 

Inzwischen sind es keineswegs nur Schwarze, die im Condomblé ihre Religion gefunden haben. Es gibt auch zahlreiche weiße Condomblé-Anhänger. Und nicht wenige dienen zwei Herren: sowohl dem Nosso Senhor do Bonfim als auch Oxalá – wohl nach dem alten Grundsatz „Doppelt genäht hält besser“. Eine von ihnen ist Dona Maria Luísa de Sousa, „Tia Lu“ (Tante Lu) genannt. „Ich bekenne mich zu beiden!“, gibt sie freimütig zu. „Es ist der Glaube, der zählt und der das Heil bringt – und der Respekt vor den Gottheiten unserer Ahnen“, ist sie überzeugt.

„Das Volk ist fromm hier“, bestätigt der Priester vor der Kirche des Senhor do Bonfim. „Allerdings sind die Katholiken bei uns auch anfällig für religiösen Individualismus, ex­treme Heiligenverehrung, mystische und prophetisch-messianische Bewegungen, Aberglauben und Spekulation. Solcher Volksglaube ist nicht nur im einfachen Volk verbreitet. Er reicht bis in die höheren Gesellschaftsschichten hinauf.“

An den schmiedeeisernen Zäunen vor der Kirche Nosso Senhor do Bonfim auf der Anhöhe flattern zehntausende bunte Armbändchen – „Fitinhas“ – im Wind. Sie haben ihren Ursprung hier in Bahia. Menschen in aller Welt tragen sie am Handgelenk. Es sind Wunschbändchen. Dreifach geknüpft halten sie wochen- oder monatelang. Die drei Knoten umschließen drei Wünsche. Jede Farbe hat ihre Bedeutung: Rot steht für Leidenschaft, Blau für Liebe, Grün für Gesundheit, Rosa für Freundschaft, Gelb für materielles Wohlergehen. Und wenn auf den Laufstegen in Mailand und Paris die brasilianischen Topmodels so ein Bändchen am Armgelenk tragen, dann ist das nicht nur ein Mode-Gag, sondern auch Ausdruck mythischen Götterglaubens.

Karl Horat

14.01.2019 - Ausland , Heilige , Religionsfreiheit